Impuls aus der Frühschicht vor Ostern am Theodor-Fliedner-Gymnasium[1]

Vor gut zwanzig Jahren hat der amerikanische Psychologe Arthur Aron eine Studie durchgeführt, in der er untersucht hat, wie Vertrautheit entsteht. Menschen, die sich vorher nie begegnet waren, mussten sich dazu (unter anderem) vier Minuten lang in die Augen schauen. Amnesty International hat das Experiment mit Menschen verschiedenen Alters aus Belgien, Deutschland, England, Polen, Somalia und Syrien wiederholt und die Ergebnisse in diesem Video festgehalten. Es sind bewegende Bilder, mehr aber noch ist es eine bewegende Erkenntnis: Nähe entsteht – selbst zwischen völlig fremden Menschen und in kürzester Zeit – wenn wir uns ansehen. Wenn wir uns in die Augen schauen.

Nach biblischer Vorstellung sind die Augen und das Sehen besonders wertvoll und schützenswert. Durch die Augen gelangen die äußeren Eindrücke nach innen und erreichen das Herz. Umgekehrt, was im Innersten eines Menschen vorgeht, das lässt sich zuerst und vor allem in seinen Augen erkennen.[2] Dass menschliche Nähe, Vertrauen und Gemeinschaft entstehen, wenn wir uns in die Augen schauen, ist somit eine Jahrtausende alte Erkenntnis. Arthur Aron und Amnesty International haben im Grunde gar nichts Neues entdeckt. Sie haben vielmehr etwas sehr Altes und Bewährtes wiederentdeckt. Im ersten Buch der Bibel sagt Hagar zu Gott, der sie sucht und findet, als sie in der Wüste einsam und verzweifelt auf den Tod wartet:

Du bist ein Gott, der mich sieht.

(Genesis 16,13)

Gesehen zu werden, ist die Rettung. Gesehen zu werden, ist ein Segen. Gesehen zu werden, stiftet Frieden. Nicht umsonst heißt es im Schlusssegen des Gottesdienstes:

Der HERR segne dich und behüte dich,
der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei der gnädig,
der HERR erhebe sein Angesicht – das heißt, seine Augen – auf dich und gebe dir Frieden.

(Numeri 6,24–26)

Wenn Menschen gesehen werden, sie an-gesehen werden, ihnen in die Augen geschaut wird, dann erfahren sie Segen. Dann entsteht Nähe, Vertrautheit, Gemeinschaft. Frieden wird gestiftet. Das aber  ist Gottes Verheißung und sein Auftrag an uns.

Gott spricht:

Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.

(Genesis 12,4)

Was hindert uns heute damit anzufangen? Es ist ja denkbar einfach: Den Menschen in die Augen schauen. Gerade denen, die uns fremd sind. – Fremde Augen, das müssen gar nicht die der Flüchtlinge aus Syrien oder Somalia sein. Vielleicht sind es ja Augen der Nachbarin, mit der ich nie mehr als drei Worte gesprochen habe. Oder die Augen eines Schülers oder einer Schülerin, die in der Pause alleine auf dem Schulhof stehen. Vielleicht haben wir aber auch dem Freund oder der Freundin, dem Partner oder der Partnerin, unserer Frau oder unserem Mann schon lange nicht mehr bewusst liebevoll in die Augen gesehen…

Du sollt sein Segen sein. – Du kannst ein Segen sein. – Schau in die Augen.

 


[1] Die Idee zu dieser Andacht verdanke ich Sabine Lindemeyer.

[2] Vgl. Helmut Merkel: Art. Auge. In: Reclams Bibellexikon, hg.v. K. Koch, E. Otto, J. Roloff u. H. Schmoldt, Stuttgart 51992, 58.