Predigt im Weihnachtsgottesdienst für die Jahrgangsstufen 9 und 10 am Theodor-Fliedner-Gymnasium

Wisst ihr, wovor Pfarrerinnen und Pfarrer Angst haben? – Na, zunächst mal vor den selben Dingen wie jeder andere Mensch auch: Vor schlimmen Nachrichten über Krankheit und Tod, vor Gewalt, Terror und Krieg. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt ist die Angst vor Terror und Gewalt in Deutschland so groß wie nie. Pfarrerinnen und Pfarrer bilden da keine Ausnahme.

Aber meine Frage meint noch etwas Anderes: Wisst ihr, wovor speziell Pfarrerinnen und Pfarrer Angst haben? – Ich sag es euch: Wir haben Angst, nicht die richtigen Worte zu finden. Ich habe Angst, nicht die richtigen Worte zu finden. Nicht zu wissen, was ich predigen soll. Keine Idee zu haben, nicht das richtige zu sagen, das, was, trifft, passt, berührt. Diese Angst ist schrecklich. Und wenn man Pfarrer ist, dann ist sie allgegenwärtig. Denn ständig muss man predigen. Die Leute in der Gemeinde oder in der Schule bekommen von dieser Angst nichts mit. Die sehen oder besser hören ja erst die fertige Predigt. Da ist die Angst dann schon überwunden. Und, wenn es gut läuft, dann hat die Predigt ihnen gefallen, hat den Ton getroffen, zum Anlass gepasst und die Menschen berührt. Dann sagen die Leute: Wie machst du das, die richtigen Worte zu finden? – Wenn die wüssten…

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Aber wahrscheinlich ist das mit Ängsten meistens so. Die anderen bekommen von unserer Angst kaum etwas mit. Angst zu haben ist zwar etwas ganz Natürliches und Menschliches, aber darüber zu reden, ist tabu. Über unsere Ängste reden wir nicht. Das ist – ehrlich gesagt – schlecht! Denn die Angst hat am meisten Macht über uns, wenn wir mit ihr und sie mit uns alleine ist. Wenn wir anderen von unserer Angst erzählen, wenn wir sie mit anderen teilen, wird sie oft schon ein bisschen kleiner. Das gilt übrigens auch für Pfarrer. Auch wir reden selten über unsere Ängste. Aber, wenn wir das machen, dann ist das unglaublich entlastend und erleichternd. Supervision nennen wir das, wenn wir uns erzählen, wovor wir Angst haben und was uns in unserer Arbeit Sorgen macht. (Supervision gibt es übrigens auch für Lehrerinnen und Lehrer.) Daher weiß ich auch, dass ich nicht der einzige bin, der Angst davor hat, dass ihm für die nächste Predigt nichts einfällt. Das geht den anderen auch so. Und viele haben in dieser Situation eine ähnliche Erfahrung gemacht: Wenn sie sich entspannt haben, ihrer Angst gelassen ins Auge gesehen und es haben darauf ankommen lassen, dann ist etwas Erstaunliches passiert: Dann mussten sie die richtigen Worte nicht suchen und finden, dann haben die richtigen Worte den Pfarrer oder die Pfarrerin gefunden.

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So was das bei dieser Predigt übrigens auch. Die 9d hat das Thema festgesetzt und ich musste mir dazu etwas ausdenken. Aber so richtig ist mir dazu nichts eingefallen. Doch dann haben wir mit der Frühschicht so eine Aktion zum Thema Weihnachtspost gemacht und ich wollte ein Blatt aus meinem Adventskalender an denjenigen schicken, den ich gezogen habe. Als ich den Adventskalender dafür durchgeblättert habe, viel mein Blick auf das Bild zum ersten Advent. Ein Engel, dessen Füße ganz fest mit der Erde verbunden sind. Sie wirken fast wie einzementiert. Doch dann sind da noch die Flügel aus Zeitungspapier. Die wirken so plastisch als könne man sie berühren und fühlen. Unter dem Bild stand der Vers der 9d: „Fürchte dich nicht!“ – Plötzlich wusste ich, was ich euch heute sagen würde: Dass man auf dem Bild hier vorne sehen kann, was die Botschaft der Engel aus der Weihnachtsgeschichte – ihr „Fürchtet euch nicht!“ – bewirkt. Es macht aus Schreckensmeldungen Flügel! Aus  Zeitungsmeldungen von Terror, Hass, Gewalt und Krieg, aus blauen Briefen und schlechten Zeugnissen, aus Arztbriefen mit schlimmen Diagnosen, aus Tagebucheinträgen von düsteren Gedanken werden Flügel, Schwingen von ungeheurer Kraft, die hochziehen und herausreißen aus Angst und Sorgen, die notfalls die ganze Welt aus den Angeln haben, in die unsere Füße einzementiert erscheinen. Flügel, die uns hochheben und eine neue Perspektive eröffnen, die uns neue Wege zeigen und uns Zuversicht und Kraft schenken, indem sie uns spüren lassen, was Gottes Botschaft zu Weihnachten ist.

„Fürchtet euch nicht!“ – Vielleicht ist die Botschaft der Engel dieses Jahr Weihnachten wichtiger denn je. Weil sie ein Einspruch ist gegen alle, die angesichts von Terror und Gewalt mit dem Schüren von Angst Politik machen wollen und damit Hass und Menschenfeindlichkeit säen. „Fürchtet euch nicht!“ – Was euch Angst macht, das kann euch Flügel verleihen! Euch zu Engeln machen, zu Boten Gottes! „Fürchtet euch nicht!“ – Das ist eine verbindende Botschaft, die Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Überzeugungen nicht voneinander trennen will, weil die Zusage Gottes größer ist als das, was Menschen voneinander trennt. Seine Macht hebt die Menschen guten Willens in die Höhe. Gottes Friede wird sich durchsetzen. – „Fürchtet euch nicht!“

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Ich bin der 9d sehr dankbar, dass sie diese Botschaft für unseren Weihnachtsgottesdienst gefunden hat. Aber vielleicht hat ja auch gar nicht die 9d diese Botschaft gefunden, sondern es war genau umgekehrt: Die Botschaft hat die 9d gefunden. – Weil wir diese Botschaft dringend brauchen.