Predigt in der Osternacht 2017 in Kaiserswerth

Es ist Frühling. – Behauptet jedenfalls der Kalender. So ganz richtig fühlt es sich aber noch nicht nach Frühling an. Ich meine wir könnten ein bisschen mehr Sonne, ein bisschen mehr Grün, ein bisschen mehr Leben gut gebrauchen. Auch im übertragenen Sinne.

In der Literatur steht der Frühling für das Aufkeimen von etwas Neuem. Da kommt etwas, das lässt sich nicht aufhalten. Da kann sich das Alte noch so sehr dagegen sträuben, das Neue wird sich irgendwann durchsetzen. Der Frühling ist mehr als eine Jahreszeit. Wenn das Eis bricht und das erste Grün aufkeimt, scheint vieles möglich. Nicht nur die Pollen fliegen – auch die Gedanken. [Der Frühling ist auch eine politische Metapher]. ‚Arabischer Frühling’, ‚Prager Frühling’ – unter diesen Begriffen sind politische Reformbewegungen in die Geschichte eingegangen.[1]  Immer dann, wenn sich die Bevölkerung gegen Unterdrückung und für Freiheit auf die Straße wagte und teils sehr blutige Auseinandersetzungen folgten, wurde von einem politischen Frühling gesprochen. Frühling wird dabei zur Metapher für eine Idee, eine Bewegung oder einen Wandel, der scheinbar nicht mehr aufzuhalten ist.[2]

Galiläischer Frühling

Auch die Bibel kennt den Frühling nicht nur als Jahreszeit. Im Neuen Testament, genauer im Matthäusevangelium, im Evangelium für die Osternacht, da gibt es einen ‚Galiläischen Frühling’:

Und siehe, da begegnete den Frauen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen. 

Matthäus 28,9f

Zugegeben, er ist etwas versteckt der ‚Galiläische Frühling’. Er steckt in der eigenartigen Botschaft, die die Frauen den Jünger übermitteln sollen: „Geht hin und verkündigt meinen Brüdern, dass Gott mich auferweckt hat, damit sie nach Galiläa gehen.“ – Ausgerechnet Galiläa. Da kamen sie doch her. Da waren sie zu Hause. Am See Genezareth, wo die Fischerboote ihrer Väter lagen. Wo sie vor knapp einem Jahr alles hatten stehen und liegen lassen, um diesem charismatischen Wanderprediger zu folgen. Wo sie ihre Familien verlassen hatten, ohne sich zu verabschieden, weil die Mission des Mannes aus Nazareth keinen Aufschub und keine Kompromisse duldete. – Galiläa. Wo sie mit ihm von Dorf zu Dorf gezogen waren, damit alle die Botschaft vom nahen Himmelreich hörten, in dem die Trauernden getröstet, die Hungernden gesättigt und die Geflüchteten beheimatet werden. In dem die letzten die ersten und die ersten die letzten sein werden, weil Gottes Gerechtigkeit die Welt auf den Kopf stellt und so den Himmel auf die Erde holt. – Galiläa. Wo aus seinen Worten Ereignisse wurden. Was Mose und die Propheten gelehrt hatten, war vor ihren Augen Wirklichkeit geworden: Sie hatten gesehen wie Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein werden und Taube hören. Wie Tote aufstehen und Armen das Evangelium gepredigt wird. Dieser Mann hatte die Welt tatsächlich auf den Kopf gestellt und den Himmel auf die Erde geholt. Da war in ihnen die Überzeugung gewachsenen, dass es für all das nur eine Erklärung geben konnte: Dieser Mann, Jesus von Nazareth, war der Gesalbte Gottes, der Messias, der Christus. Es konnte gar nicht anders sein. Genauso stand es doch geschrieben. – Der Tag der Erlösung war da!

Doch dann kam die Katastrophe. Weil er unbedingt nach Jerusalem wollte, um auch da die Welt auf den Kopf zu stellen. Es kam zur Katastrophe, weil er auch da von der Gerechtigkeit Gottes sprach, wo die Selbstgerechtigkeit das Wort führte. Weil er auch da Nächstenliebe und Solidarität predigte, wo viele sich nur selber die Nächste waren. Weil er auch da zu Versöhnung und Frieden aufrief, wo Vergeltung und Krieg die Macht absichern sollten. Es kam zur Katastrophe, weil seine Botschaft selbst angesichts des drohenden Todes keine Kompromisse duldete. Weil er darauf beharrte, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Weil er verrückter Weise glaubte, dass Gott ihn nicht dem Tod überlassen würde. Weil für ihn die Welt auf dem Kopf stand und der Himmel auf die Erde gekommen war.

Das war drei Tage her. Drei Tage, die gezeigt hatten, dass die Welt mitnichten auf dem Kopf stand. Die ersten waren weiterhin die ersten und die letzten blieben die letzten. An Trost für die Trauernden war nicht zu denken, denn der Tod hatte gesiegt. Von wegen Himmel auf Erden, es war die Hölle. – Doch dann kamen sie gelaufen, die Frauen, hin und her gerissen zwischen Entsetzen und Freude. Sie hätten ihn gesehen. Ihn gehört. Ihn berührt. Jetzt wüssten sie, dass er lebt. Außerdem hätte er eine Botschaft für sie. „Geht hin“, hätte er gesagt, „und verkündigt meinen Brüdern, dass Gott mich auferweckt hat, damit sie nach Galiläa gehen. Dort werden sie mich sehen.“ – Galiläa. Natürlich Galiläa. Zurück an den Anfang. Zurück auf den Weg. Jesus lebt. Er ist der Messias, der Christus. Seine Mission duldet keinen Aufschub. Seine Botschaft duldet keinen Kompromiss. Was in Galiläa begonnen hat, lässt sich nicht mehr aufhalten. Die Welt steht Kopf und der Himmel ist auf die Erde gekommen. Es ist Frühling und er beginnt in Galiläa!

Messianische Akrobatik[3]

Es ist Ostern. – Behauptet jedenfalls der liturgische Kalender. So ganz richtig fühlt es sich aber noch nicht nach Ostern an. Ich meine wir könnten ein bisschen mehr Glaube, ein bisschen mehr Liebe, ein bisschen mehr Hoffnung gut gebrauchen. Als österliche Frühlingsgefühle!

Wie können wir etwas von dem galiläischen Frühling erleben, der mit Ostern beginnt? – Eine Idee ist vorne auf dem Gottesdienstprogramm zu sehen: „Messianische Akrobatik“. Der Begriff stammt von dem jüdischen Schriftsteller Manès Sperber, der in seiner Autobiographie davon spricht, wie er von seinem Freund Berele messianische Akrobatik gelernt hat:

Wie die Erwachsenen wussten auch wir Kinder, dass der Messias jeden Augenblick auf die Erde herabsteigen könnte. Unsere Erlösung würde erst einmal mit einer ‚Umkehrung der Welt’ beginnen. Berele folgerte draus, dass man plötzlich auf dem Kopf zu stehen kommen würde. Um nun diese unangenehme Situation zu vermeiden, galt es, den Kopfstand rechtzeitig zu üben, erklärte Berele, denn so würden wir in jenem großen Augenblick in die richtige Position kommen. Unter seiner Anleitung lernte ich auf den Händen gehen, mit dem Kopf so lange nach unten, bis mir schwindlig wurde.[4]

Das genau ist zu Ostern unsere Aufgabe: Die Welt im Licht des Ostermorgens zu sehen. Wie sie auf dem Kopf steht und der Himmel auf die Erde gekommen ist. Denken Sie an eine Situation in Ihrem Leben, in der Sie ein bisschen mehr Glaube, ein bisschen mehr Liebe, ein bisschen mehr Hoffnung gebrauchen könnten. Denken Sie an eine Situation in unserer Stadt, in unserem Land, in der es sich nicht so richtig nach Ostern, nicht so richtig nach Galiläischem Frühling anfühlt. Dann üben Sie die messianische Akrobatik. Schauen Sie die Situation im Licht des Ostermorgens an. Da ist unser Glaube größer als unsere Angst. Ein ganz kleines Bisschen nur, aber das reicht um Berge zu versetzen und dem Tod die Stirn zu bieten. Da ist die Liebe stärker als Neid und Hass. Da gibt es keine Alternative zur Solidarität mit Notleidenden und keine Obergrenze in der Nächstenliebe. Da ist die Hoffnung größer als die Realität und eine unerschöpfliche Quelle an Kraft, Mut und Zuversicht im Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.

Die messianische Akrobatik ist alles andere als leicht. Das müssen wir üben, üben, üben. Solange bis uns schwindelig wird. Aber, hey, es ist Ostern! Jesus lebt! Es ist Galiläischer Frühling. – Lasst uns nach Galiläa gehen und von dort weiter – auf den Händen mit dem Kopf nach unten – nach Düsseldorf in unseren Alltag. Dort werden wir IHN sehen.

 


[1] http://www.zeit.de/news/2012-03/19/wetter-wenn-es-fruehling-wird-liegt-veraenderung-in-der-luft-19104802 (Abruf: 13.04.2017).

[2] https://www.chili-dasmagazin.de/artikel/der-politische-fruehling (Abruf: 13.04.2017).

[3] Die Idee zum Text von Manès Sperber verdanke ich der Andacht von Superintendentin Henrike Tetz im Ständigen Ausschuss Erziehung und Bildung der EKiR vom 29.03.2017.

[4] Manès Sperber: Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene… Band 1, Frankfurt a.M. 1993, 32.