Im Gegensatz zu gestern scheint heute Morgen herrlich die Sonne. Der Ausblick aus meinem Fenster ist grandios. Nach dem Frühstück hole ich nach, wozu ich gestern aufgrund des Wetters keine Lust hatte. Ich erkunde die Klosteranlage in der winterlichen Sonne.







Danach geht es wieder in mein Zimmer und an den Schreibtisch. Heute sollen die Exerzitien mit der geistlichen Schriftlesung beginnen. Kürzlich ist mir das Exerzitienbuch von Katharina Oppel in die Hände gefallen. Über Bonhoeffers Entdeckung der Bergpredigt und seine Hinwendung zur Bibel habe ich schon früher gelesen und nachgedacht. Dass er für sich selber und die Arbeit im Predigerseminar Finkenwalde nach dem Vorbild der Exerzitien von Ignatius von Loyola eine schriftgebundene Meditation entwickelt hat, war mir nicht bekannt. Schon deshalb hat mich dieses Exerzitienbuch gereizt.

In der Einleitung habe ich dann einen Gedanken gefunden, der mich in diesem Jahr bei meinen Exerzitien leiten soll. Katharina Oppel schreibt dort:
Ihm (d.h. Dietrich Bonhoeffer) wurde klar, dass die Getauften verlernt hätten, dieses Wort Gottes (d.h. insbesondere die Bergpredigt) nicht nur ‚für sich’, sondern auch ‚gegen sich’ zu lesen. ‚Für sich’, das bedeutete für ihn so viel wie ‚individualistisch und als Mittel zur Befriedigung der eigenen spirituellen Bedürfnisse geeignet’. Er war überzeugt, die Kirche und ihre Vertreter müssten neu lernen, dieses Wort ‚gegen sich zu lesen‘, also sich die unbequeme Frage zu stellen, was die Schrift konkret mit der Politik, Wirtschaft, Aufrüstung … in der Gegenwart der 1930er-Jahre zu tun habe, und wie verantwortliches, sichtbares Handeln des Einzelnen und der kirchlichen Gemeinschaft insgesamt konkret aussehen müsste.
Katharina D. Oppel: Ganz Menschsein in einer brüchigen Welt. Exerzitien im Alltag mit Dietrich Bonhoeffer, S. 12
Die biblischen Worte nicht primär „für mich“, sondern auch „gegen mich“ zu lesen, das möchte ich in diesen Tagen mit dem im Buch vorgeschlagenen Texten versuchen. Da ich nur eine Woche Zeit habe, steige ich ein mit Woche 4, die unter dem Grundgedanke „Mit Gott leiden an einer Welt ohne Gott“ steht.
Der Bibeltext für heute entstammt der Bibel in gerechter Sprache:
Tragt einander eure Lasten und erfüllt so das Gesetz des Messias.
Galater 6,2
Für ein anderes kleines Projekt in dieser Woche liegen mein Nestle-Aland und das Griechisch-deutsche Taschenwörterbuch zum Neuen Testament noch aufgeschlagen auf dem Tisch. Auch wenn die geistliche Schriftlesung das eigentlich nicht vorsieht, kann ich nicht widerstehen, in den griechischen Text zu schauen:
Tragen und Lasten. Beides derselbe Wortstamm. Das Substantiv bedeutet „Last“, „Gewicht“, aber auch „Fülle der Herrlichkeit“. Vermutlich ist es das griechische Äquivalent zu kawod. Das Verb kann „auf sich nehmen“, „tragen“, aber auch „ertragen“ oder „aushalten“ bedeuten.
Einander. Luther übersetzt „einer … des anderen …“. Das griechische Wort bedeutet „gegenseitig“. Da passen beide Übersetzungen. Das griechische Wort bedeutet übrigens nicht „gemeinsam“ oder „zusammen“.
Das war jetzt aber der Bibelwissenschaftler in mir. Ich denke sehr lange über den Vers nach, versuche ihn auch „gegen mich“ zu lesen. Meine Belastung ist oft hoch. Insbesondere beruflich. Damit habe ich in der Regel genug zu tragen. Meine ich. Die Lasten anderer könnte ich nur schwerlich noch zusätzlich tragen. Das würde mich noch stärker belasten. Es würde mich allein schon belasten, wenn ich die Lasten anderer auch nur ertragen müsste und aushalten sollte. Das, nehme ich an, geht auch allen anderen so. Deshalb möchte ich mit meiner Belastung möglichst niemandem zur Last fallen. Ich bleibe mit meiner Belastung allein, weil ich sie anderen nicht zumuten möchte. Und ich halte mich von der Last anderer fern, weil ich sie mir nicht zumute. Dadurch bleibt der/die andere natürlich mit seiner/ihrer Belastung auch allein.
Tragt einander eure Lasten und erfüllt so das Gesetz des Messias.
Galater 6,2
Es fehlt mir an Mut zur Zumutung. Etwas abzugeben und abzunehmen. Darum geht es. Nicht die Lasten aller mit allen gemeinsam zu tragen. Sondern gegenseitig etwas von der Last des/der anderen zu tragen. Und das muss vielleicht auch nicht eins zu eins zwischen zwei Menschen sein. Ich muss nicht jemanden finden, der bereit ist, meine Belastung zu tragen, bevor ich mir seine zumuten kann. Das Lasten-tragen kann größer und weiter gedacht werden. Ein grundsätzlicher mitmenschlicher Umgang. Der Bibeltext mutet mir das zu: Ich kann und soll damit beginnen. Und er macht Mut: Wo ich mir und anderen die Lasten des Lebens zumuten, da begegnet uns Christus.

Nach der Sext und dem Mittagessen breche ich zu einer kleinen Wanderung auf. Dabei komme ich an den Klosterteichen vorbei. Die Wasseroberfläche sieht eigenartig aus. Erst als ich auf dem Weg eine zugefrorene Pfütze sehe, wird mir klar, dass es eine dünne Eisschicht ist. So kalt scheint es mir gar nicht zu sein. Die Sonne vom Vormittag ist inzwischen dunklen Wolken gewichen. Ich kürze die geplante Wanderung ab, um nicht nass zu werden. Statt dessen geht es zurück auf mein Zimmer zu den Büchern.
Wieder bin ich erstaunt, wie viel ich schaffe zu lesen. Und wie leicht es mir fällt, mich ununterbrochen auf das zu konzentrieren, was ich gerade tue. Neben dem Rhythmus des Tages ist sicher das Abschalten der digitalen Datenverbindung der entscheidende Grund für diese Erfahrung. So einfach und so effektiv. Warum mache ich das nicht viel öfter auch ohne Kloster?