Tag 3 – Vesper

So langsam habe ich mich in die Liturgien der Tagzeitengebete eingehört und kann gut mitsingen. Im Kloster Maria Laach im letzten Jahr ist mir das nicht so recht gelungen. Auch haben dort die Besucherinnen und Besucher der Gebetszeiten in der Klosterkirche allesamt nur schweigend teilgenommen. Das ist hier anders. Es sind vor allem Mitarbeitende des Klosters und Stammgäste, die an den Gebetszeiten teilnehmen und daher gut geübt sind. Alles ist aber auch aufs Mitmachen ausgelegt. Trotz der nicht ganz unkomplizierten Folge von Gesängen, die aus dem Evangelischen Tagzeitenbuch und dem Evangelischen Gesangsbuch stammen, gibt es ein Anzeigesystem mit Farben und ein Liturgieblatt mit entsprechenden Markierungen. Es ist leicht zu durchschauen und daher partizipativ angelegt.

Interessant ist, dass es mir hier schwerer fällt, liturgische Haltungen und Gesten, wie das Knien und das Kreuzzeichen, die ich eigentlich mag, zu praktizieren, während mir das in Maria Laach ganz leicht gefallen ist. Vielleicht, überlege ich, habe ich dort meine „katholische Seite“ ausgelebt, während sich hier meine „evangelische Seite“ zeigt. Das ist in sofern etwas eigenartig, weil hier ja nahezu alle Evangelischen ganz selbstverständlich knien und sich bekreuzigen. Vielleicht ist mir das mittlerweile doch fremder, als ich gedacht habe.

Nach dem Frühstück habe ich die Chance bekommen, mir die Bibliothek der Evangelischen Michaelsbruderschaft anzusehen. Ich habe die Gelegenheit genutzt und ein wenig über die Geschichte der Bruderschaft und ihre Regel zu lesen. Sie interessiert mich schon länger. Am Nachmittag hatte dann der geistliche Leiter des Hauses Zeit für ein Gespräch, sodass ich gleich auch meine Fragen zum Kloster Kirchberg und der Evangelischen Michaelsbruderschaft kompetent beantwortet bekommen habe. Einigermaßen nachdenklich bin ich aus dem Gespräch auf mein Zimmer gegangen.

Die Exerzitien heute haben mir einen mir sehr vertrauten Text vorgelegt:

Um drei Uhr schrie Jesus sehr laut: „Elo-i Elo-i lama sabachthani?“ Das heißt übersetzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Markus 15,34

Sofort bin ich bei meiner Deutung dieser Szene. Jesus zitiert sterbend den Beginn von Psalm 22. Ein Klagepsalm. Was sich vordergründig danach anhört, als habe sich Jesus in der Todesnot enttäuscht von Gott abgewendet, stellt sich als Irrtum heraus. Denn in seiner Not wendet er sich ja mit seiner Klage gerade Gott zu. Seinem Gott. Es ist das „i“ in „Elo-i“, das aus „Gott“ im Aramäischen „mein Gott“ macht. An diesen kleinsten der hebräischen Buchstaben, hängt Jesus sein ganzes Vertrauen. In der Not kann man sich von Gott abwenden, oder aber sich ihm gerade dann zuwenden.

Aber ich wollte die Texte doch bewusst „gegen mich“ und damit auch gegen meine gewohnten Deutungen lesen. Dabei hilft mir heute der Impuls aus den Schriften Bonhoeffers, der zu dem Bibelvers im Exerzitienbuch abgedruckt ist:

Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er muss also wirklich in der gottlosen Welt leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu verdecken, zu verklären; er muss „weltlich“ leben und nimmt eben darin an den Leiden Gottes teil …

Dietrich Bonhoeffer, Werke, Band 8, S. 535

Ich schaue nochmal auf den Bibelvers. Die Worte Jesu am Kreuz beschönigen nichts. Sie sind nicht Ausdruck heroischer Pflichterfüllung wie im Johannesevangelium („Es ist vollbracht.“ – Joh 19,30), oder demütiger Hingabe wie im Lukasevangelium  („Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ – Lk 23,46). Sie sind realistisch und unmissverständlich. Hier ist keine Hilfe. Hier ist kein Gott. Hier ist keine Rettung.

Jesus macht es vor: Mit Gott leiden an einer Welt ohne Gott. Was heißt es, ihm darin zu folgen? – Vielleicht das: Nichts vom Leid in der Welt beschönigen, oder gar entschuldigen. Keinen Sinn konstruieren, wo es keinen gibt. Kein Hinwegtrösten über das Leid, kein Vertrösten auf ein jenseitiges Glück. In den Abgrund der Sinnlosigkeit schauen. Das erinnert mich an meinen Deutschlehrer in der Oberstufe. Ein Existenzialist. Der hat uns gerne damit konfrontiert, dass es keinen Sinn im Leben gibt. Vor allem mich, wollte er damit provozieren: „Sascha, wagen Sie es in den Abgrund der Sinnlosigkeit zu schauen, danach können wir über Ihren Glauben sprechen.“ Heute denke ich, er hat mir etwas Wertvolles gezeigt. In einer Welt ohne Gott müssen wir in den Abgrund der Sinnlosigkeit schauen. Und dann weitermachen. Seite an Seite mit dem Gott des Christus am Kreuz. Seinem Gott. Meinem Gott.

Mit der Vesper beginnt der Abend. Mir fällt auf, dass mir hier überhaupt nicht schwer fällt, dem ungesunden Essen und Trinken am Abend zu widerstehen. Dabei gibt es hier eine große Auswahl sehr guter und perfekt temperierter Rotweine, dazu eine Vielzahl an Süßigkeiten und Knabbereien. Auch Gesellschaft gibt es im Gemeinschaftsraum immer. Aber nach all dem habe ich in den vergangenen Tagen kein Verlangen gespürt. Vermutlich bin ich gerade mit mir und dem, was ich tue, im Einklang. Ich brauche am Abend nichts anderes, um zu entspannen und abzuschalten.

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