Die Nacht mit zehn anderen in einem stickig-heißen Mehrbettzimmer war erwartungsgemäß unruhig und entsprechend schlaflos. Mein Schlaftracker hat 3 Stunden und 49 Minuten Schlaf aufgezeichnet. Um 5:00 Uhr klingelte dann auch schon der erste Wecker. Erst habe ich versucht nochmal einzuschlafen, dann hab ich es aufgegeben und bin aufgestanden und früh los. Es war dann ein bisschen kühler, aber wirklich nur ein bisschen.
Dafür war der Weg wirklich sehr schön und abwechslungsreich. Eine schöne kleine (leider geschlossenen) Kirche habe ich für das Morgengebet ausgewählt und anschließend in einem Café in der Nähe gefrühstückt. Da saßen dann auch all jene, die schon um 5:00 Uhr losgegangen sind.
Das Laufen ging heute eigentlich ganz gut. Eigentlich deshalb, weil das Loslaufen schmerzhaft ist. Meine Knie sind die Belastungen echt nicht gewohnt. Als sehr hilfreich und vor allem die Knie entlastend haben sich die Trekkingstöcke erwiesen. Bei den Höhenmetern, die jetzt stetig mehr werden, sind sie eine unschätzbare Hilfe.
Auf der Höhe der Ortschaft Carvalhal hatte ich auf einer menschenleeren Straße die erste Begegnung mit einem herrenlosen Hund. Glücklicherweise war er recht klein, augenscheinlich ganz lieb und interessierte sich nicht wirklich für mich. Trotzdem musste ich sofort an Paulo Coelhos Begegnung mit dem Hund denken:
„Ich blickte zur Seite. Da stand er: der Hund. (…) Ich hielt den Blick des Tieres fest, während ich fieberhaft überlegte, wie ich mit dieser Situation fertig werden sollte. Keiner von uns rührte sich, und ich musste unwillkürlich an die Duelle in einer dieser menschenleeren Städte in den Westernfilmen denken. Niemand war bisher auf die Idee gekommen, ein Duell zwischen einem Mann und einem Hund zu inszenieren. Das war einfach zu unglaubhaft. Doch da stand ich und erlebte real, was in der Fiktion unrealistisch gewesen wäre.
Dort stand die Legion, denn es waren ihrer viele. Neben mir lag ein verlassenes Haus. Wenn ich unvermittelt losrennen würde, könnte ich auf das Dach klettern, und die Legion würde mir nicht folgen. Sie war im Körper und den Fähigkeiten eines Hundes gefangen.
Ich verwarf diesen Gedanken sofort, während ich den Hund weiterhin anstarrte. Mir hatte schon oft vor diesem Moment gegraut, und jetzt war es soweit. Bevor ich mein Schwert fand, mußte ich mich meinem Feind stellen, ihn entweder besiegen oder von ihm besiegt werden. Wenn ich jetzt floh, war alles verloren. Vielleicht würde der Hund nie wieder kommen. Doch ich würde bis Santiago in ständiger Angst leben, und später würde ich nächtelang von diesem Hund träumen, der jeden Moment wieder auftauchen konnte.“
(Paulo Coelho: Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela, Zürich 1999, 194f.)
Dass ich auf dem Weg meinen persönlichen Dämonen begegnen würde, konnte ich mir schon vorstellen, allerdings wohl eher nicht in Form eines Hundes. Meine unbewussten Ängste zeigen sich eher in Form von Träumen und psychosomatischen Symptomen. Beides habe ich in den Tagen kurz vor dem Aufbruch erlebt. Letztlich sind die „Dämonen“ alte Bekannte. Ob ich mich ihnen auf dem Weg explizit stellen werde, ist offen.
Die heutige Etappe war deutlich kürzer als die ersten beiden. Die Versuchung noch weiter zu gehen, war schon da, aber das wäre tatsächlich unvernünftig.
Barcelos ist eine tolle Stadt. Das hat die Entscheidung leichter gemacht, heute hier zu bleiben. Jan, den ich gestern unterwegs getroffen habe, hat dieselbe Entscheidung getroffen. So sind wir – dank der kurzen Etappe – die ersten in der Herberge Cidade de Barcelos. Wir entscheiden uns für ein Dreibettzimmer, in das dann – wie könnte es anders sein – der ältere italienische Pilger kommt, der in der vergangenen Nacht in unserem Zimmer reichlich für Unruhe gesorgt hat. Heute Nacht probiere ich definitiv das Ohropax aus.