Da die angekündigte Pilgergruppe in unserer Herberge gestern nicht aufgetaucht ist, hatten Jan und ich das gesamte Haus für uns. Einzig den Wohnbereich mussten wir mit ein paar Mäusen teilen.
Zum Abendessen haben wir uns mit Annieke und Franziska getroffen, die zwei Kilometer vor Rubiães ihre Herberge hatten. Da sie nicht mehr Laufen wollten, sind sie zum Restaurant getrampt. Zum Abschluss des Tages hatten wir noch eine Flasche Wein gekauft, die wir gemeinsam getrunken haben. Die Nacht – ausnahmsweise mal nicht in einem Schlafsaal – habe ich komplett durchgeschlafen.
Um fünf war die Nacht aber dann doch zu ende, um nicht zu spät in Tui anzukommen, weil ja in Spanien die Uhren wieder um eine Stunde vorgestellt werden.
Die Etappe heute war nicht ganz so schön wie die der letzten Tage, dafür aber ziemlich anstrengend. Die Höhenmeter von gestern stecken mir mehr in den Knochen bzw. in den Knien als ich gedacht habe und es gab heute einige heftige Abstiege.
Insgesamt führte der Weg sehr häufig über Kopfsteinpflaster aus unbehauenen Steinen. Den Weg mit Laufschuhen zu gehen, wie das manche machen, halte ich für keine gute Idee.
An den Stellen, wo der Weg staubig ist, sieht man die Fußabdrücke der Pilger, die vor einem diesen Weg gegangen sind. Wenn man sich klar macht, dass jährlich 200.000 Pilger in Santiago de Compostela eintreffen, muss die Zahl derer, die seit Bestehen des Jakobswegs hier gelaufen sind, immens sein. Ich habe mir unterwegs vorgestellt, dass all ihre Fußabdrücke hier in Staub zu sehen waren. Das hat mich berührt. Jeder und jede ist seinen/ihren eigenen Caminho gegangen und trotzdem waren sie alle auf ein gemeinsames Ziel hin unterwegs.
Für mich ist das auch ein Bild für Kirche. Das Bild von einer Gemeinschaft zu der alle gehören, die seit ihrem Beginn dort ihren Glauben gelebt haben. Ich bin überzeugt, dass wir im Gottesdienst und besonders beim Abendmahl nicht nur in der sichtbaren Gemeinschaft dere, die anwesend sind, feiern, sondern auch in der unsichtbaren Gemeinschaft derer, die vor uns waren. Die unsichtbare Gemeinschaft der Kirche bekommt in der sichtbaren Gestalt. Das sind so Gedanken, die mir kommen, wenn ich laufe und auf den Weg schaue.
Ganz andere Gedanken entstehen, wenn ich die polnische Pilgergruppe vor mir auf dem Weg habe. Denn dann ist klar, dass man sich in einer Bar oder in einem Café nur dann für einen Kaffee anstellen sollte, wenn man eine sehr lange Pause eingeplant hat. Ansonsten sollte man weitergehen. Deshalb ist es für eine flexible Pausenplanung immer gut, wenn die polnische Gruppe hinter dir unterwegs ist. Es sei denn – wie heute erlebt – die polnische Gruppe verläuft sich. Jan und ich waren guter Dinge, denn besagte Gruppe wussten wir hinter uns, da hörten wir, nachdem wir die Festung in Valença verlassen hatten, plötzlich vor uns von oben eine Stimme, die rief – frei aus dem Polnischen übersetzt: „Da sind die Deutschen, jetzt sind wir wieder richtig!“ Etwa 50 Meter vor uns kletterten die Polen unter Aufsicht ihres Priesters die Festungsmauern herunter und machten sich vor uns auf den Weg nach Tui. Damit war die Kaffee-Pause gestrichen.
Tui ist eine unheimlich schöne Stadt. Dass die Kathedrale ausgerechnet oben auf den Berg liegt, kommt meinen Knien zwar nicht gerade entgegen, der Besuch dort ist aber trotzdem Pflicht. In der Anbetungskapelle habe ich die Texte des Mittagsgebets gelesen und anschließend gleich noch einen Stempel für den Pilgerausweis geholt. Hinter Tui beginnen nämlich irgendwo die letzten 100 Kilometer des portugiesischen Jakobswegs, auf denen man zwei Stempel pro Tag nachweisen muss, um in Santiago die Compostela zu bekommen.
Die Herberge für diese Nacht soll laut Pilgerführer 900 Meter hinter der Kathedrale direkt am Jakobsweg liegen. Das stimmt auch, allerdings steht da nicht, dass man zunächst den Berg, auf dem die Kathedrale liegt, wieder herunter muss. Stichwort: Knie!
Dafür ist die Herberge „Villa San Clemente“ einfach unglaublich. Der große Garten wirkt wie ein Freilichtmuseum. Außerdem gibt es einen Pool. Zum Duschen kommt daher heute noch Schwimmen hinzu, der Rest ist Routine.
Jetzt sitze ich mit meinem Tagebuch im Garten und freue mich über das Glück, das ich bisher bei der Wahl der Herbergen hatte. Christina, die Hospitalera (Herbergsmutter) in Rates hat gesagt:
„Der Caminho nimmt und der Caminho gibt.“
Da ist was dran.