Beit Jala und Jerusalem, 15. Oktober 2019

Der Tag beginnt mit der Schulandacht in Talitha Kumi. Alle 500 Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule nehmen daran teil. Heute findet sie auf Arabisch statt. Doch bevor die Andacht beginnt, wird – wie zu Beginn eines jeden Schultags an jeder palästinensischen Schule – die Nationalhymne gesungen. Die Andacht besteht aus einer liturgischen Eröffnung, einem Lied, Schriftlesung, Ansprache, Gebet und Segen. Das ist auch ohne Arabisch-Kenntnisse zu erkennen. Die Religionslehrerin, die heute die Andacht hält, fasst ihre Ansprache für uns auf Englisch zusammen. Es geht um Sukkot, das Laubhüttenfest, dass Jüdinnen und Juden in dieser Woche feiern, und um Yom Kippur, den großen Versöhnungstag. Sie erzählt den Schülerinnen und Schülern, wie diese Feste gefeiert werden, und was sich theologisch dahinter verbirgt. Schließlich weist sie auf den Zusammenhang zwischen Yom Kippur und der Deutung des Todes Jesu hin.

Talitha Kumi ist es ein großes Anliegen, dass die Schülerinnen und Schüler von den Religionen der jeweils anderen erfahren, Gemeinsamkeiten entdecken und so einen friedlichen Umgang miteinander lernen. Das Engagement von Talitha Kumi als evangelischer Schule in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft (es gibt weniger als 1% Christen in Palästina) wird in diesem Jahr mit dem Barbara-Schadeberg-Preis ausgezeichnet. Nächste Woche werden eine Lehrerin und zwei Schüler*innen den Preis in Münster entgegennehmen.

Nach der Andacht dürfen wir mit in den Religionsunterricht der neunten Klasse. Es ist christlichen Religionsunterricht in arabischer Sprache für alle christlichen Konfessionen gemeinsam. Religionsunterricht ist in Palästina ein Pflichtfach an allen Schulen, das als islamischer oder christlicher Religionsunterricht dreistündig erteilt wird. Für den christlichen Religionsunterricht gibt es ein staatlich genehmigtes Curriculum und ein offizielles Schulbuch. Seit 2018 ist Christliche Religion zudem auch Prüfungsfach im palästinensischen Abitur. Das ist einzigartig in der arabischen Welt.

 An diesem Vormittag haben wir Gelegenheit noch weitere Kolleginnen und Kollegen in ihren Unterricht zu begleiten. Wir erleben Deutsch-Unterricht in der 1d, Englisch-Unterricht in Klasse 10 und Mathematik in Klasse 11. In Talitha Kumi lernen alle Schülerinnen und Schüler Deutsch als Fremdsprache. Ab der siebten Klasse findet der Unterricht im deutschsprachigen Zweig in allen Fächern auf Deutsch statt (Ausnahmen sind Biologie auf Englisch und Religion auf Arabisch) und es besteht die Möglichkeit ein deutsches Abitur zu machen.

Eher zufällig besuchen wir auch die beiden Bibliothek der Schule. Sowohl in der arabischen wie in der deutschen Bibliothek gibt es Bibliothekarinnen, deren Herz für die Bücher und das Lesen schlägt. Beide Bibliothekarinnen erzählen traurig, dass auch die palästinensischen Schülerinnen und Schüler immer weniger lesen. Um dem entgegen zu wirken, findet regelmäßig Bibliotheksunterricht statt.

Am Nachmittag fahren wir mit dem Linienbus 231 von Beit Jala nach Jerusalem. Es ist deutlich zu erkennen, dass wir mitten im jüdischen Laubhüttenfest sind. Überall sind Hütten errichtet, in denen gegessen und getrunken wird, es gibt Spiel- und Bastelaktion für die Kinder und die Familien kommen in Festkleidung zum Gebet an die Westmauer. Die sogenannte Klagemauer zu besuchen, war für mich bisher der Höhepunkt der Reise. Hier verbindet sich Geschichte zum Anfassen mit jüdischem Leben und jüdischer Frömmigkeit. Die große Bandbreite dieser Frömmigkeit zwischen liberal und ultraorthodox ist unter der betenden Festgemeinde gut zu beobachten.

Wenn man die Altstadt an der Westmauer verlässt, sieht man auf der anderen Seite des Kidrontals den jüdischen Friedhof. Die steinernen Grabstätten sind so angelegt, dass die Verstorbenen in Richtung des Tempelbergs schauen, von woher sie das Kommen des Messias erwarten.

Am Fuße des Ölbergs besuchen wir den Garten Gethsemane. Hier stehen Jahrhunderte alte Olivenbäume, von denen man sich leicht vorstellen kann, dass sie Zeugen der Festnahme Jesu gewesen sind.

Zurück in der Altstadt tauchen wir erneut in das Labyrinth der engen Gassen mit den zahllosen Händlern ein. Auf der Via Dolorosa, dem Kreuzweg Jesu sind die christlichen Pilgergruppen unterwegs zur Grabeskirche. Hier kommen wir am Abend an. Diese Kirche mit ihren Kapellen für die verschiedenen christlichen Konfessionen hat mit ihrer Weihrauch geschwängerten Luft schon eine besondere Anziehungskraft auf mich. Die Verehrung einzelner Orte und Gegenstände dort bleibt mir aber mehr als fremd.

Vom Damaskustor fährt der Bus zurück nach Beit Jala. Weder beim Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, noch in der überfüllten Altstadt von Jerusalem, oder auf dem Platz vor der Klagemauer habe ich mich bisher unsicher gefühlt. Ganz im Gegenteil, das Eintauchen in die Welt des Nahen Ostens fasziniert mich sehr. Ich kann es kaum erwarten morgen Nachmittag erneut nach Jerusalem zu fahren.

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