Der Tag beginnt früh im Kloster. Um fünf Uhr klingelt mein Wecker. Nach dem Duschen geht es zuerst in die Kirche. Vigilien und Laudes ab 05:30 Uhr. Zurück in meinem Zimmer dann 20 Minuten Meditation. Anschließend Lectio Divina, geistliche Schriftlesung. Das Programm habe ich mir selber so vorgenommen. Im Gästeflügel, kann jeder Gast seinen Tag gestalten, wie er oder sie möchte. Für mich sollen es aber ja Exerzitien werden, geistliche Übungen.
Schon vor einiger Zeit habe ich ein Heft zur Lectio Divina mit Jesus-Fragen entdeckt und es aus einem Impuls heraus bestellt. Seitdem lag es auf dem Stapel der noch zu lesenden Bücher. Jetzt liegt es vor mir auf dem Tisch. Heute probiere ich es aus.
Morgengebet und Meditation sollten als geistliche Einstimmung eigentlich reichen. Ich lese direkt den vorgeschlagenen Bibeltext, Markus 10,46-52:
Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele befahlen ihm zu schweigen. er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Moment konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.
Es werden mir drei Schritte vorgeschlagen. Der erste Schritt lautet: Ich lese den Text.
Das fällt mir nicht schwer. – Was willst Du, dass ich dir tue? (Mk 10,51) – Jesu Frage zielt darauf, das Anliegen des Bettlers zu verstehen. Den Anlass kennt er schon. Der Mann ist blind. Er sitze am Wegesrand und bettelt. Jesus kommt vorbei. Das ist die Gelegenheit. Gott soll sich seiner erbarmen. Jesus soll sich seiner Situation annehmen. Was aber ist genau sein Anliegen? – Ein systemischer Berater hätte an Jesu Stelle wahrscheinlich gefragt: Mal angenommen, diese Begegnung mit mir läuft so, wie du es dir wünschst. Was ist dann hinterher anders als vorher? Was hat sich verändert? – Die Antwort des Bettlers kommt wie aus der Pistole geschossen: Rabbuni, ich möchte sehen können.
Der zweite Schritt, der mir vorgeschlagen wird lautet: Der Text liest mich.
Darüber denke ich etwas länger nach. – Was ist mein Anliegen für diese Woche? Den Anlass kenne ich schon. Ich bekomme die Chance, im Rahmen einer Fortbildung eine Woche Exerzitien im Kloster zu erleben. Das Klosterleben und das Stundengebet faszinieren mich sehr. Das einmal selber zu erleben, wünsche ich mir schon lange. Aber was genau ist mein Anliegen? – Mal angenommen, ich finde hier im Kloster, wonach ich suche. Mal angenommen, es passiert etwas in mir und mit mir. Was ist dann anders als vorher? – Ich bin dann ruhiger, gelassener, konzentrierter. – Wie ist das, wenn Du ruhiger, gelassener und konzentrierter bist? Woran erkennst du das? – Ich werde dann nicht mehr ständig zum Handy greifen. – Was tust du, wenn du nicht mehr ständig zum Handy greifst? Was machst du statt dessen? – Ich bleibe bei dem, was ich gerade mache. Ich lese ohne Unterbrechung am Stück. Ich bleibe im Kontakt, im Gespräch, das gerade besteht. Ich bin im Hier und Jetzt. Dann hat alles seine Zeit. Dann ist alles die Zeit wert, die es dauert. – Dann gebe ich allem die Zeit, die es braucht.
Der dritte Schritt lautet: Mit der Frage weitergehen.
„Was willst du, dass ich dir tue?“, fragt Jesus. Mein Anliegen verändert sich durch seine Frage. Es wird von etwas, das mir widerfährt zu etwas, das ich tue. So geht es dem Blinden Bartimäus auch. Die Erzählung endet damit, was Bartimäus tut: Er folgte Jesus auf seinem Weg nach. Für mich heißt das: Ich werde beobachten, was sich bei mir im Laufe der Woche verändert. Was ich im Laufe der Woche anders mache, um allem die Zeit zu geben, die es braucht.
Am Tagesablauf im Kloster kann man dazu interessante Beobachtungen machen. Ich habe das Gefühl, dass hier einfach so viel mehr Zeit ist als in meinem Alltag. Gut, nun arbeite ich in dieser Woche auch nicht in der üblichen Weise. Aber selbst für einen normalen Bürotag wäre hier genügend Zeit. Die Werktage sehen nämlich folgendermaßen aus:
05:30 bis 06:15 Uhr – Vigilien und Laudes
07:30 bis 08:15 Uhr – Konventamt
08:15 bis 09:00 Uhr – Frühstück
11:45 bis 12:00 Uhr – Tageshore
12:00 bis 12:30 Uhr – Mittagessen
17:30 bis 18:00 Uhr – Vesper
18:30 bis 19:00 Uhr – Abendessen
19:45 bis 20:15 Uhr – Komplet
Dadurch, dass die Zeiten für das Gebet, den Gottesdienst und die Mahlzeiten unverrückbar feststehen, entstehen verlässliche Zeiträume für alles andere. Eine interessante Erfahrung…