Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festgemeinde,

heute muss ich gut aufpassen, dass ich mich nicht wieder verspreche. Bei meinem allerersten Abiturgottesdienst am TFG habe ich bei der Begrüßung versehentlich Konfirmanden statt Abiturienten gesagt. Damals gab es einen gemeinsamen Einzug und ich war irgendwie im Autopiloten für die Konfirmation gelandet. Heute könnte mir etwas Ähnliches passieren. Heute könnte ich versehentlich in den Autopiloten für Hochzeiten schalten. Nicht nur, dass heute alle so feierlich gekleidet sind (wenn auch die Braut in weiß fehlt), auch der Bibeltext, den der Vorbereitungskreis ausgesucht hat, ist ein klassischer Text bei der Kirchlichen Hochzeit: Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei. (1Kor 13,13a)

Damit heute nichts schiefgeht und ich nicht versehentlich das eine oder andere Pärchen dieser Stufe traue, hab ich die zweite Vershälfte von 1Kor 13,13 weggelassen: Aber die Liebe ist die größte unter ihnen (1Kor 13,13b). Außerdem habe ich mit dem Vorbereitungskreis verabredet, dass sie sich um den Glauben, die Hoffnung und die Liebe kümmern und ich mich um den Rest. Das schien mir eine gute Idee, bis ich gestern am Schreibtisch saß, um die Predigt vorzubereiten. Da wurde mir schlagartig klar, dass der Rest doch recht dünn ist: Zur Auswahl stehen also bleiben und diese drei. Über die Zahl drei ließe sich so einiges sagen, aber mit biblischer Zahlenmystik dem Geheimnis der Heiligen Dreifaltigkeit wollte ich Ihnen und euch heute nicht kommen (obwohl das auch spannend ist). Dann ist da nur noch also bleiben. Das also ist dem Kontext geschuldet und nur für die Verbindung des Verses mit dem Vorangegangenen interessant. Übrig ist dann nur noch bleiben.

Heute deshalb – notgedrungen – eine Predigt über bleiben. Der Duden unterscheidet vier Bedeutungen von bleiben: A) „Bleiben“ in der Bedeutung von „eine bestimmte Stelle, einen Ort nicht verlassen; irgendwo verharren“; B) „Bleiben“ in der Bedeutung von „eine grundlegende Eigenschaft behalten“; C) „Bleiben“ in der Bedeutung von „eine Haltung nicht verändern“; und D) „Bleiben“ in der Bedeutung „was (für die Zukunft) zu tun übrig bleibt“.

A) „Bleiben“ in der Bedeutung von „eine bestimmte Stelle, einen Ort nicht verlassen; irgendwo verharren“

Das passt nun heute definitiv gar nicht. Denn wenn eines klar ist, dann das heute ein Tag des Aufbruchs ist und nicht des Bleibens. Selbst wenn ihr nicht direkt zum Studium umzieht oder ins Ausland geht, dann soll sich und dann wird sich doch in naher Zukunft eine Menge ändern. Die Schulzeit ist zu Ende, Freiheit steht auf dem Programm. Viele Wege stehen offen, die Zukunft kann kommen. – Vielleicht raus von zu Hause, neue, ungeahnte Möglichkeiten, das eigene Leben nach eigenen Regeln. Bleiben – einen Ort nicht verlassen, irgendwo verharren – das ist für euch heute nun wirklich nicht angesagt.

Für eure Eltern vielleicht schon eher… Die bleiben ja, wenn ihr geht. Und sie müssen euch gehen lassen. Äußerlich und innerlich. Das ist gar nicht so einfach. Obwohl – wenn wir ganz ehrlich sind, liebe Eltern – dann haben wir seit der Geburt unserer Kinder schon gewusst, dass wir ihr Leben und ihre Zukunft letztlich nicht in der Hand haben. Trotz aller Liebe und Fürsorge können nicht machen, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden. Wir können unseren Kindern eine Menge mitgeben auf ihrem Weg und sie begleiten. Wir können sie in guter Weise binden, aber wir müssen unsere Kinder auch loslassen. Und das müssen wir tun. Denn in aller Regel sind die Eltern es, die stärker festhalten als die Kinder.

Die Schule hat es da leichter. Uns ist klar, dass ihr nicht immer hier bleibt. Uns ist klar, dass ihr gehen müsst und dass ihr gehen wollt. Was wir mir euren Eltern gemeinsam haben, das ist der Wunsch, dass etwas von dem bleibt, das in der gemeinsamen Zeit gewachsen ist.

B) „Bleiben“ in der Bedeutung von „eine grundlegende Eigenschaft behalten“

Als ihr ganz klein ward, da habt ihr ohne, dass ihr euch daran erinnern könntet etwas ganz Entscheidendes gelernt. Inmitten einer riesigen, verrückten Welt mit unzähligen Farben, Formen und Geräuschen, die ihr nicht durchschauen, verstehen, geschweige denn kontrollieren konntet, habt ihr euch sicher gefühlt und geborgen. Weil jemand da war, der euch beschützt hat. Der euren Hunger gestillt, die Windeln gewechselt und die Angst vertrieben hat. Ihr habt Vertrauen gelernt. Vertrauen in die Welt, das Leben, die Menschen. – Urvertrauen, ohne dass man nicht leben kann. Das ist lange her. Jetzt seid ihr erwachsen. Ihr habt gelernt die Welt zu hinterfragen, kennt ihre Chancen und Gefahren. Ihr habt erlebt, dass das Leben tolle Seiten hat, aber auch harte Zeiten kennt. Ihr habt erfahren, wie wertvoll es ist, einem Menschen vertrauen zu können. Und wie bitter es ist, wenn Vertrauen enttäuscht wird.

Mit dem Vertrauen hat es eine eigenartige Bewandtnis. Es ist eigentlich immer bedingungslos. Vertrauen beruht zwar auf Gegenseitigkeit, aber nur so, dass ich stets in Vorlage treten muss. Wenn ich warte, bis ich ganz sicher bin, nicht enttäuscht werden zu können, dann ist es kein Vertrauen. Vertrauen lässt sich nicht aus einer sicheren Position heraus bekommen. Es gibt sie immer nur im Sprung! Es ist als stünden wir am Rand eines tiefen Grabens und der auf der anderen Seite ruft „Komm rüber, da ist eine unsichtbare Brücke!“ Wer auf Sicherheit setzt und den Fuß nicht ins Ungewisse setzt, der kann nicht abstürzen und nicht verletzt werden. – Er wird aber auch niemals erfahren, ob sein Vertrauen ihn trägt.

Ich bin überzeugt, dass wir ohne Vertrauen nicht dankbar leben und getröstet sterben können. Wir sind angewiesen auf ein Daseins bestimmenden Vertrauen. Die Bibel nennt diese Vertrauen „Glauben“. Jesus hat zu seinem Freund Petrus gesagt: Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. (Lk 22,32) – Dem schließe ich mich an: Ich bete darum, dass ihr diese grundlegende Eigenschaft behaltet. Dass sie euch bleibt!

C) „Bleiben“ in der Bedeutung von „eine Haltung nicht verändern“

Welche Haltung habt ihr im Blick auf die Zukunft? Ich meine dabei nicht nur eure eigene ganz persönliche Zukunft? Ich meine auch und vor allem die Zukunft dieser Stadt, unseres Landes, der Welt und der Menschen? – Wenn wir über die Zukunft nachdenken, wenn wir abwägen, was wir erwarten können, dann spielen dabei unsere Erfahrungen eine Rolle. Wie war es in der Vergangenheit. Wie läuft es in der Gegenwart. Was kann daraus realistischer Weise in der Zukunft erwachsen? Wir schauen auf die Schlagzeilen der vergangenen Tage, Wochen und Monate. So viel Krieg, Gewalt, Krankheit, Hunger und Not. Ist da eine Trendwende erkennbar? Wir schauen auf die Geschichte. Haben Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung je eine echte Chance gehabt? Sind es nicht andere Motive, die die Geschichte der Menschheit bestimmt haben? Wird sich da je was ändern? Wir schauen auf unsere Möglichkeiten und Grenzen. – Was kann gehen? Was ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu schaffen? Wir schauen uns um. – Bin ich mit meinem Engagement und mit meinem Beitrag alleine oder machen andere mit? Wie viele sind es, die so denken und handeln wie ich? Können wir überhaupt etwas bewegen? Wenn das unsere Haltung gegenüber der Zukunft ist, dann ergibt sich ein vielleicht durchaus realistisches, aber ebenso pessimistisches Bild.

Am TFG versuchen wir deshalb eine andere Haltung zur Zukunft einzunehmen. Darin ist Zukunft ist nicht das, was aus den Möglichkeiten und Grenzen der Vergangenheit und der Gegenwart erwächst, sondern das, was von Gott her auf uns zukommt. Wir haben keine Ahnung, wie genau die Zukunft aussieht. Wir haben keine Ahnung, was sie uns bringt. Aber wir haben allen Grund ihr mit Zuversicht und Mut entgegenzugehen, weil es Gott ist, der sie uns schenkt. Diese Haltung der Zukunft gegenüber nennt die Bibel „Hoffnung“. Im Hebräerbrief heißt es: Hoffnung haben wir als einen sicheren und festen Anker unsrer Seele. (Hebr 6,19) – Ich wünsche euch, dass ihr einen solchen Anker für eure Seelen habt. Und dass er euch bleibt!

D) „Bleiben“ in der Bedeutung „was (für die Zukunft) zu tun übrig bleibt“

Eurem bisherigen Lebensweg habt ihr eine Menge Gutes erfahren. Liebe und Geborgenheit, Begleitung und Hilfe, die Möglichkeit Gaben und Fähigkeiten zu entdecken, zu fördern und auszubauen. Das alles nehmt ihr heute mit. Dieser Tag lädt deshalb auch dazu ein darüber nachzudenken, wofür wir dankbar sein können, wenn wir zurückblicken: Für Eltern, Geschwister, Großeltern, Verwandte und Freunde. Vielleicht auch für Lehrerinnen und Lehrer und für die Zeit an einer Schule, die lange nicht alle besuchen können, die das gerne wollen.

Dankbarkeit aber macht uns darauf aufmerksam, dass wir die Gaben und Fähigkeiten, die wir in uns tragen, das Wissen und das Können, das wir entwickeln konnten und die Hilfe und die Begleitung, die wir dabei erfahren durften, nicht in erster Linie für uns alleine haben.

Unsere Gaben sind zugleich unsere Aufgaben: Behaltet das Gute, das ihr erfahren und empfangen habt, nicht für euch. Sondern lasst es in der Zukunft wirksam werden, indem ihr denen etwas davon weitergebt, die es dringend brauchen. Die Bibel nennt das „Liebe“. Genauer gesagt Nächstenliebe. Paulus schreibt der Gemeinde in Rom: Was es so alles an Geboten gibt, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Röm 13,9) – Das ist es, was für die Zukunft zu tun bleibt.

Schluss

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, eure Konfirmation liegt lange hinter euch und eure Hochzeit in noch unbestimmter Zukunft vor euch. Trotzdem ist heute ein besonderer Tag auf eurem Lebensweg. Wenn ihr mit euren Zeugnissen in der Hand geht, dann wünsche ich euch, dass etwas bleibt: Glaube, Hoffnung, Liebe; diese drei. – Macht’s gut!