Einleitung

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festgemeinde,
der Predigttext, den der Vorbereitungskreis ausgesucht hat, besteht nur aus einem Satz:

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg;
aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.

(Sprüche 16,9)

Die Predigt besteht auch nur aus einem Satz:

Wer so leben will, wie er leben möchte,
darf nicht so leben wollen, wie er es sich vorgestellt hat.

(DIE ZEIT 25/2013, Philosophie-Spezial)

Damit ist alles gesagt. Die zehn Minuten, die die Predigt sonst gewöhnlich dauert, können wir uns nehmen, um schweigend – jeder und jede für sich – über diesen Satz nachzudenken. Zehn Minuten ab jetzt… [Hinsetzen und schweigend warten bis es unruhig wird.]

1. Denkendes Herz

Gar nicht so leicht heute morgen mit dem konzentrierten Nachdenken… – Ihr habt wahrscheinlich noch genug vom Denken und Lernen für die Klausuren und Prüfungen. Oder vom Nachdenken und Planen, was jetzt nach dem Abitur zu tun ist und welchen Weg ihr einschlagen sollt. Alle anderen, die heute morgen mit euch gekommen sind, haben den Kopf wahrscheinlich auch voller Gedanken und fast alle drehen sich um euch! – Nach den Texten gerade und nach der Musik, da sind aus den Gedanken Gefühle geworden. Ganz viele, ganz unterschiedliche, zum Teil ganz widersprüchliche. Heute morgen denken wir mit dem Herzen. Ganz so wie es dem Predigttext vorschwebt: Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg.

Der Kopf sagt: Ist doch alles perfekt! Die Schulzeit zu Ende, Freiheit ohne Grenzen, alle Wege stehen offen, die Zukunft kann kommen. Vielleicht raus von zu Hause, neue, ungeahnte Möglichkeiten, das eigene Leben nach eigenen Regeln. Besser kann es doch gar nicht laufen. Mach dir keine Sorgen, nutze den Tag! – Das Herz sagt: Aber jetzt geht zu Ende, was 12 Jahre – fast immer also– den Alltag bestimmt hat. Was uns über Jahre hinweg tagtäglich mit Menschen zusammengebracht hat, die wir kennen und schätzen, mache auch lieben gelernt haben, die Freundinnen und Freunde geworden sind und teilweise Partnerinnen und Partner. – Was wird aus den Freundschaften und Beziehungen? Werden sie bestehen, wenn der gemeinsame Alltag wegfällt? Wenn es durch Studium, Ausbildung oder Ausland zu einer räumlichen Trennung kommt? – Herz über Kopf!

Oder der Kopf sagt: Es gibt so viele Möglichkeiten und ich habe die Freiheit zu wählen. Es kommt nur darauf an die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich habe das schließlich selber in der Hand! – Das Herz fragt: Wie lassen sich meine Hoffnungen und Träume erfüllen? Kann ich den Erwartungen gerecht werden – meinen eigenen und denen, die andere an mich stellen? Was ist es eigentlich, was ich machen möchte? Was ist mein Ziel? Was passt zu mir? Was fühlt sich richtig an? Und was, wenn ich mich falsch entscheide? Wird aus „meiner Freiheit“ dann „meine Verantwortung“? Habe ich mein Lebensglück wirklich selber in der Hand? – Herz über Kopf!

Den Eltern geht es nicht anders. Wenn wir ganz ehrlich sind, liebe Eltern, dann haben wir seit der Geburt unserer Kinder schon gewusst, dass wir ihr Leben und ihre Zukunft letztlich nicht in der Hand haben. Trotz aller Liebe und Fürsorge können nicht machen, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden. Wir können unseren Kindern eine Menge mitgeben auf ihrem Weg und sie begleiten. – Der Kopf sagt: Wir können unsere Kinder in guter Weise binden, aber wir müssen sie auch loslassen. Und das müssen wir tun. Denn in aller Regel sind die Eltern es, die stärker festhalten als die Kinder. – Das Herz sagt: Das ist aber verdammt schwer. – Herz über Kopf!

Ja, wenn es um unsere Lebenswege geht, dann übernimmt unser Herz das Denken: Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg…

2. Gelenkter Schritt

…aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. – Das ist zu einem Sprichwort geworden: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Vor allem von älteren Gemeindegliedern habe ich das immer mal wieder gehört, wenn sie auf ihr Leben zurückblickten und von Irrungen, Wirrungen und unerwarteten Wendungen erzählten. Das Sprichwort ist mit einer bestimmten Art von Frömmigkeit verbunden, einer Form von Ergebenheit in Gottes Plan, der ganz und gar unabhängig von unseren menschlichen Gedanken und Bemühungen abläuft. Das Denken und Planen unseres Herzens ist – in dieser Frömmigkeit – eine unvermeidliche aber am Ende doch ganz und gar unnütze Sache. Des Menschen Herz kann nicht anders als denken und planen, beeinflussen kann es den eigenen Lebensweg aber nicht. Manchmal beeindruckt ich eine solche Frömmigkeit. Manchmal ärgert sie mich auch. Im Blick auf unseren Predigttext ist sie zumindest fraglich! Denn das hebräische Wort „kun“, das Luther mit „lenken“ übersetzt, hat die Grundbedeutung „aufrecht, fest oder sicher stehen“. Man könnte also auch übersetzen: Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr macht seinen Schritt sicher und fest.

Das mach schon einen Unterschied. Gottes Lenken ist nicht unabhängig von den Gedanken und Plänen unseres Herzens. Es ist nicht nur absolut menschlich, sondern auch gut und richtig – mit Kopf und Herz – über den eigenen Lebensweg nachzudenken. Es ist gut Pläne zu machen und Ziele zu haben. Es ist gut der Freiheit gelassen entgegenzutreten und mutig Entscheidungen zu treffen. Es ist gut Verantwortung zu übernehmen für sich, für andere, in der Gesellschaft und in der Welt. Es ist aber auch gut zu spüren und zu wissen, dass der Erfolg unserer Pläne und das Erreichen unserer Ziele nicht allein von uns abhängen. Und es ist gut zu spüren und zu wissen, dass wir nicht alleine sind: Viele haben euch auf eurem Lebensweg bisher begleitet und unterstützt. Eltern und Großeltern, Geschwister, Verwandte und Freunde. Sie haben euch geholfen sichere Schritte zu machen auf dem Weg eures Lebens. Von den ersten tapsigen Gehversuchen, als ihr Laufen gelernt habt, bis an die Schwelle des Erwachsenwerdens und dem Ende eurer Schulzeit.

Seid dankbar für ihre Liebe und Geborgenheit, Begleitung und Hilfe, wenn das Leben nach euren Plänen verläuft! – Seid demütig und lasst euch von ihnen helfen, trösten und aufrichten, wenn ihr mit Niederlagen und Rückschlägen fertig werden müsst! – Seid solidarisch und nutzt die Gaben, Erfahrungen und Fähigkeiten, die ihr bekommen, gemacht und erworben habt, um denen zu helfen, die es schwer haben einen guten Weg in ihrem Leben zu finden!  Das wird eure Schritte fester machen und sicherer auf eurem Weg.

3. Der HERR auf dem Weg

Der Predigttext denkt die Leitung und Begleitung aber noch weiter: Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr macht seinen Schritt sicher und fest. Nach einmal lohnt es sich genau auf den hebräischen Text zu hören. Wo Luther der alten jüdischen Tradition folgend „der Herr“ übersetzt, steht im Text der Gottesname. Gottes Name aber ist zugleich auch sein Programm: „Ich bin da!“ Wenn Gott, der Herr, unsere Schritte sicher macht und fest, dann allein dadurch, dass für unseren Lebensweg gilt, was sein Name verspricht: Ich bin da! – Ich bin da, wenn Du dein Glück in die Welt hinausschreien könntest. – Ich bin da, wenn du im Meer der Traurigkeit zu ertrinken drohst. – Ich bin da, wenn Du weggehst und ich bin da, wenn du heimkehrst. Das im Herzen zu spüren und mit dem Kopf zu begreifen, lässt uns sichere Schritte gehen auf dem Weg unseres Lebens. Das bedeutet nicht, dass alle eure Pläne aufgehen werden. Ihr werdet nicht jedes Ziel erreichen. Ihr werdet nicht immer auf Anhieb den richtigen Weg finden. Ihr werdet manchmal anhalten und sicher auch mal umkehren müssen. In eurem Leben wird es immer wieder anders kommen, als ihr es euch vorgestellt habt. Das ist verwirrend, manchmal sogar erschreckend und macht unsicher und ängstlich. Aber das ist normal.

Wer so leben will, wie er leben möchte,
darf nicht so leben wollen, wie er es sich vorgestellt hat.

Ich wünsche euch, dass euch das gelingt: Euch Abiturienten, dass ihr zuversichtlich auch die verschlungenen und unsicheren Wege eures Lebens geht. – Im Vertrauen darauf, dass Gott, der Herr, eure Schritte sicher macht und fest. Ihnen als Eltern, dass Sie ihre Kinder mit einem guten Gefühl loslassen, weil es an der Zeit ist. – Im Vertrauen darauf, dass Ihre Kinder niemals, wirklich niemals alleine sind auf ihrem Weg.

Schluss

[Auf die Uhr schauen.] Jetzt sind die zehn Minuten um und ihr seid nicht zum stillen Nachdenken und ich nicht zum Predigen gekommen. Gut, dass Predigttext und Predigt jeweils nur aus einem Satz bestehen. Dann kann ich jetzt noch schnell die Predigt halten:

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festgemeinde,

Wer so leben will, wie er leben möchte,
darf nicht so leben wollen, wie er es sich vorgestellt hat.

Denn des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg;
aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.

Amen.