Predigt im ökumenischen Gedenkgottesdienst zur Pogromnacht am 9. November 19381

Im „Holocaust-Turm“ des jüdischen Museums in Berlin ist es kalt und es fällt nur wenig Licht durch den Schlitz unterhalb der Decke. Die Tür fällt ins Schloss und ich bin alleine. Ganz langsam gehe ich in den spitz zulaufenden Teil des Turms. Mit jedem Schritt kommen die kalten Wände näher, schwindet das wenige Licht, nimmt die Beklemmung zu. Das sogenannte „tote Ende“ ist unerträglich. Nach über zwei Stunden im Museum merke ich, dass meine Gedanken die Sprache gewechselt haben. Die Überlegungen, Fragen und Kommentare in mir nehmen eigenartiger Weise in Englisch Form an. Vielleicht ist es Imitation, weil alle Erläuterungen auch in Englisch zu lesen sind. Vielleicht ist es aber auch ein Stück Distanz und Schutz, ein inneres Zurückweichen vor der unerträglichen Last der deutschen Geschichte.

Im Gedenkgang am heutigen Abend haben uns Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Rückert-Gymnasiums und des Leibniz-Montessori-Gymnasiums die Ereignisse des 9. Novembers 1938 in unserer Stadt durch die Erlebnisse der Familie Oppenheimer aus der Parkstraße 74 vor Augen geführt.  Die Gedanken und Gefühle, die durch die Berührung mit den Erlebnissen der Familie Oppenheimer bei uns auslöst werden und das Wissen darum, dass es sich hierbei um ein Beispiel von Tausenden handelt machen die deutsche Geschichte – die Geschichte unseres Landes, unsere eigene Geschichte – schier unerträglich. In der Woche vor den Herbstferien war ich mit meinem Leistungskurs „Evangelische Religion“ auf Studienfahrt in Berlin. Wir waren im Konzentrationslager Sachenhausen, haben die Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas besucht und hatten durch Begegnungen in der Neuen Synagoge einen Eindruck davon, wie jüdisches Leben in Berlin heute aussieht. – Die Unerträglichkeit der deutschen Geschichte war dort nahezu mit Händen zu greifen. Eine riesige Last, der sich niemand entziehen kann. Wir haben gemerkt: Egal wie wir uns zu dieser Vergangenheit stellen, ob wir uns distanzieren, weil wir damals noch nicht lebten, ob wir unseren Eltern und Großeltern glauben oder nicht, dass sie davon nichts gewusst haben, ob wir das Ganze versuchen zu verdrängen, um die quälenden Fragen zu ersticken, die Vergangenheit haftet uns an. Wie gehen wir damit um?

„Niemand kann sich aus eigener Kraft von der Last seiner Vergangenheit befreien. Niemand entlastet sich selbst, weder einzelne noch Völker. Um frei zu werden bedarf es eines anderen, der ihm eine Chance eröffnet.“ (Ernst Lange)2

Handelt davon nicht auch die Geschichte vom Zöllner Zachäus, die wir als Lesung (Lk 19,1–9) gehört haben? Die Geschichte von diesem kleinen, reichen Mann. Den sie als Kind immer ausgelacht haben, weil er so klein war. Der jetzt Oberzöllner ist. Der Macht hat und Geld. Über den jetzt niemand mehr lacht. Leiden kann ihn trotzdem niemand. Als Zöllner ist er ein Kollaborateur der Römer, die das Land besetzt halten und Israel die Freiheit rauben. Die Steuern erheben, die Zachäus als Zöllner einzutreiben hat. Was von den Steuereinnahmen übrigbleibt, wenn Rom seinen Teil bekommen hat, gehört ihm. Wieviel zu zahlen ist, wird jeweils neu festgesetzt. Da gibt es einen gewissen Spielraum… Zachäus wird in vielen Predigten und in den allermeisten Schulbüchern als ein kleiner Ganove dargestellt. Der sich selbstsüchtig bereichert und damit ganz zufrieden lebt. – Ich stelle ihn mir, ehrlich gesagt, ganz anders vor. Ich stelle mir vor, dass Zachäus in seinem Leben überhaupt nicht glücklich ist. Als Sohn Abrahams – als Jude – liegt ihm an der Freiheit Israels. Ein von römischen Soldaten überwachter Tempel muss für ihn ein Albtraum sein. Andererseits lässt sich den politischen Realitäten auch nicht einfach entfliehen. Bestimmt hat er Frau und Kinder, die es zu versorgen gilt. Sein Beruf bindet ihn auf Gedeih und Verderben an die römische Besatzungsmacht. Ich stelle mir vor, dass Zachäus sich oft selber nicht leiden kann. Dass ihm die Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft, die er täglich erlebt, stärker zu schaffen macht, als er es nach außen zeigt. – Innerlich zerrissen, mit sich selbst und seinem Leben unzufrieden, das ist der Zöllner Zachäus, wie ich ihn sehe.

Doch dann wird der Besuch des Rabbi Jesus von Nazareth angekündigt. Wundersame Dinge erzählt man sich über ihn: Er spricht von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, von Umkehr und Neuanfang. – Die ganze Stadt ist auf den Beinen und auch Zachäus will ihn sehen. Er will sich selber ein Bild machen. Sehen, ob es stimmt, was die Leute sagen. Neugierig ist er, das steht fest. Aber ist da nicht noch mehr? – Eine Sehnsucht vielleicht, von der er selber nicht weiß? Eine dunkle verschwommene Ahnung, die sich in nichts Anderem äußert als in dem Wunsch, diesen Jesus zu sehen? Irgendetwas treibt ihn an. Dass die Menge ihm den Weg versperrt, kann ihn nicht hindern. Er kennt den Weg, den Jesus nehmen soll, läuft ihm voraus und klettert auf einen Baum. – Hätte er Zeit gehabt darüber nachzudenken, dann hätte er das sicher nicht getan. Er riskiert damit, sich zum Gespött der Leute zu machen. – Doch in diesem Moment denkt er nicht nach. Und dann begegnen sie sich: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. (Lk 19,5) – Worte wie Balsam für die Seele. Zachäus steigt herunter und führt Jesus in sein Haus. – Die Menge ist entsetzt. Und dann heißt es: Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. (Lk 19,8)

Was passiert da? Der Oberzöllner macht sich auf den Weg, um den Betrogenen gegenüberzutreten, seine Vergehen zuzugeben und sie wieder gut zu machen? – War das etwa die Bedingung, die Jesus gestellt hat, damit er im Hause des Zachäus bleibt? Oder gar die Buße, die Jesus ihm auferlegt hat? Nein, ganz sicher nicht. Etwas anders ist passiert: Die Begegnung mit Jesus hat Zachäus verändert. Der Blick, der ihn auf dem Baum entdeckte. Die Worte, die seine Sehnsucht kannten. Die haben seine zerrissene Seele geheilt. Deshalb muss Zachäus jetzt nichts mehr verdrängen, kann über seine Fehler reden und zum ersten Mal zu sich selber stehen. – Versöhnung ist geschehen, noch bevor Zachäus irgendetwas hätte wiedergutmachen können. Das hat ihn verändert. Aber nicht so, dass er seine Vergangenheit einfach abstreifen, aus seiner Welt ausbrechen und seinen Job an den Nagel hängen würde. Die Vergebung die er erfahren hat bedeutet nämlich nicht, dass die Vergangenheit ihr Gesicht verloren hätte. „Das Vergangene bleibt der Grundriss seines Lebens.“ (Ernst Lange)3 Er bleibt Oberzöllner und wird doch ein ganz anderer. Die Liebe Gottes, die ihm in Jesus begegnet ist, hat ihm eine Chance eröffnet. Die persönliche Schuld, die verpassten Gelegenheiten, die zerbrochenen Beziehungen, das alles ist nicht weg, aber es hat einen angemessenen Platz gefunden in seiner Biographie. Trotz der Unannehmbarkeit, die aus dieser Vergangenheit spricht, kann Zachäus sich selber annehmen, weil erfahren hat, dass er bei Gott angenommen ist. Jesus bringt es auf den Punkt: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren. (Lk 19,9) Was „Heil“ auch alles heißen mag, eines heißt es ganz gewiss: Dass Menschen sich selber annehmen können, weil sie von Gott angenommen sind.

„Niemand kann sich aus eigener Kraft von der Last seiner Vergangenheit befreien. Niemand entlastet sich selbst, weder einzelne noch Völker. Um frei zu werden bedarf es eines anderen, der ihm eine Chance eröffnet.“ (Ernst Lange)4

Was bedeutet das für uns, die wir uns zum Gedenken der Pogromnacht am 9. November 1938 versammelt haben? – Vielleicht das: Frei werden können wir niemals von unserer Vergangenheit oder von unserer Geschichte. Frei werden können wir nur mit unserer Vergangenheit und in unserer Geschichte.5 – Das gilt für jede und jeden Einzelnen von uns, und es gilt für die deutsche Geschichte insgesamt. Allen Stimmen in unserer Gesellschaft, die fordern eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ zu vollziehen“, ist daher deutlich zu widersprechen. Gerade an einem 9. November können und wir dürfen wir uns nicht von unserer Geschichte befreien! Wir dürfen aber hoffen, frei zu werden mit dieser Geschichte und in ihr. Dass wir zu unserer Vergangenheit stehen, die historische Schuld nicht verdrängen, sondern aus den Fehlern lernen. Dass wir jetzt und in Zukunft mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender lieben. Um frei zu werden bedarf es jedoch eines anderen, der uns eine Chance eröffnet. Ich meine, an diesem Abend werden uns gleich zwei Chancen eröffnet:

Sie, sehr geehrte Frau Dr. Green-Sutton geben uns durch Ihre Anwesenheit und durch Ihre Bereitschaft als Betroffene und Zeitzeugin mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen, die Chance mit unserer Geschichte so in Berührung zu kommen, dass sie uns verändert. Keine der Schülerinnen und keiner der Schüler wird jemals wieder an der Parkstraße 74 vorbeigehen, ohne an die unerträglichen Ereignisse der Novemberpogrome zu denken. Sie werden aber auch nicht an der Parkstraße 74 vorbeigehen, ohne daran zu denken, dass Sie, liebe Frau Sutton, bereit waren mit ihnen zu sprechen. Das ist die eine Chance, für die wir Ihnen von Herzen danken.

Die andere Chance liegt im Evangelium für Zachäus. Es macht uns deutlich, dass Versöhnung ist möglich, wo Gott in Christus bei uns einkehrt und uns damit eine Chance eröffnet. Christus sieht auch uns. Und er ruft uns: Steigt eilend herunter, denn heute ich muss in eure Häuser einkehren! (Lk 19,5)