Predigt im Abiturgottesdienst 2023 am Theodor-Fliedner-Gymnasium in Kaiserswerth

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festgemeinde, irgendwie habe ich heute in besonderer Weise das Gefühl, dass sich ein Kreis schließt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir den Abiturgottesdienst in diesem Jahr nicht in der Mutterhauskirche feiern, sondern hier in der Aula. Dass wir zum feierlichen Abschluss eurer Schulzeit am selben Ort sind, wie bei eurer Einschulung vor acht Jahren. Julian hat das am Anfang perfekt auf den Punkt gebracht. Es hat mich sehr berührt, dass ihr euch an die Achterbahn erinnert habt, von der ich euch in der Andacht am Einschulungstag erzählt habe. Dass es turbulent werden wird, wir aber ganz langsam starten, damit genug Zeit zum Kennenlernen und Eingewöhnen ist. Erinnert ihr euch noch daran, dass Herr Jacobs gesagt hat, dass eure Eltern ganz aufgeregt sind, ihr sie an die Hand nehmen und ihnen Mut zusprechen sollt? Wer wohl heute aufgeregter ist? – Da sind wir nun also wieder. Die dieselben, aber doch nicht die gleichen…

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Wir haben gehört, dass der Apostel Paulus schreibt:

Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind.
Ich urteilte wie ein Kind und dachte wie ein Kind.
Als ich ein Mann geworden war, legte ich alles Kindliche ab.

1. Korinther 13,11

Auch ihr seid erwachsen geworden. Das Kind vom ersten Schultag der fünften Klasse ist heute kaum noch zu erkennen. Und das Ende der Schulzeit ist ein nächster Schritt auf dem Weg des Erwachsen-Werdens. Von außen betrachtet erscheint das Ende der Schulzeit einfach super: Eine Zeit ohne Klausuren, Referate, Vokabeln und Formeln. Ohne Stundenpläne und Montage mit ersten Stunden. Eine Zeit eigener Pläne, vieler Möglichkeiten und neuer Ziele. In vermute, dass in euch anders aussieht. In Annouks Text war davon etwas zu spüren: Die neue Freiheit und die Vielzahl der Möglichkeiten, werfen Fragen auf: Wie lassen sich meine Hoffnungen und Träume erfüllen? Kann ich den Erwartungen gerecht werden – meinen eigenen und denen, die andere an mich stellen? Was ist es eigentlich, was ich machen möchte? Was ist mein Ziel? Was passt zu mir? Was fühlt sich richtig an? Und was, wenn ich mich falsch entscheide? Und dann stehen auch noch so viele Abschiede an. Heute geht zu Ende, was 12 Jahre – also fast immer – euren Alltag bestimmt hat. Was euch über Jahre hinweg jeden Tag mit den Menschen zusammengebracht, die ihr schätzen und mache lieben gelernt habt. Was wird aus den Freundschaften und Beziehungen, wenn ihre ab morgen auf unterschiedlichen Wegen geht? Werden Sie bestehen, wenn der gemeinsame Alltag wegfällt? – In Freude und Aufregung mischen sich auch Unsicherheit und Sorge.

Ich vermute, euren Eltern geht es nicht viel anders. Euch am Ende der Schulzeit mit euren Abiturzeugnissen zu sehen, macht sie glücklich und stolz. Gleichzeitig heißt das für eure Eltern aber, euch jetzt noch mal wieder ein Stückchen weiter loszulassen. Das aber ist leichter gesagt als getan. Dabei haben wir, liebe Eltern, doch seit der Geburt unserer Kinder schon geahnt, dass wir ihr Leben und ihre Zukunft letztlich nicht in der Hand haben. Wir können nicht machen, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden. Je älter die Kinder werden, desto deutlicher wird uns das. – Elternsein, das ist die schönste und die schwierigste Aufgabe zugleich.

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Hören wir nochmal auf den Apostel Paulus:

Jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild.
Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzterkenne ich nur Bruchstücke.
Aber dann werde ich vollständig erkennen,
so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.

1. Korinther 13,12

Paulus kennt die Ambivalenz des Lebens. Er weiß, dass selbst glasklare Ziele und maximaler Einsatz manchmal in Sackgassen oder auf Umwege führen. Er weiß, dass selbst beste Planung und festeste Absicht nicht verhindern können, dass manches in die Brüche geht oder notgedrungen unvollständig bleiben muss. Er kennt es, sich selbst zu verlieren und zu suchen, ja sich ganz neu erfinden zu müssen. Was gibt ihm Zuversicht, Kraft und Mut? Paulus ist überzeugt, dass Gott ihn kennt. Besser als ihn seine Eltern kennen. Ja, besser als er sich selbst kennt. Das Knäul der Gedanken in seinem Kopf. Das Meer der Gefühle in einem Herzen. Gott kennt ihn und sieht mehr als die rätselhaften Spiegelbilder und die unübersichtlichen Bruchstücke. Gott sieht, wie alles zusammengehört und zusammenpasst. Gott weiß, dass am Ende nichts fehlen wird und wirklich alles dazugehört. Gott kennt und sieht ihn ganz. – Gott kennt und sieht UNS ganz.

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Paulus schreibt weiter:

Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei.
Doch am größten von ihnen ist die Liebe.

1. Korinther 13,11–13

Ich glaube er meint damit: Wenn man erwachsen wird, dann legt man mehr oder weniger alles Kindliche ab. Was aber bleiben sollte und bleiben muss, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Der Glaube lässt uns darauf vertrauen, dass Gott uns kennt. Er sagt uns: Gott sieht schon jetzt schon dein ganzes Leben. Er begleitet dich auch in den verrücktesten Zeiten und an den entferntesten Orten. Die Hoffnung lässt uns zuversichtlich, geduldig und mutig sein, obwohl und gerade dann, wenn wir den Weg nicht kennen, der vor uns liegt. Was aber ist mit der Liebe? Der größten unter den dreien?

Nun, ihr habt einen großen Schatz an Liebe und Geborgenheit, Begleitung und Hilfe in euren Eltern, Geschwistern, Großeltern, Verwandten und Freunden. Ihr seid gut ausgebildet, ihr habt eine Menge an Wissen, an Können und an Kompetenzen entwickelt. Ihr habt Schwächen eingegrenzt und Stärken ausgebaut. Ihr habt Erfahrungen gemacht und gelernt auf eure Fähigkeiten und Talente zu vertrauen. Das alles nehmt ihr mit, wenn ihr heute die Schule verlasst. Haltet es gut fest und haltet es in Ehren. – Aber behaltet es nicht alleine für euch! Die Gaben und Fähigkeiten, die ihr in euch tragt, das Wissen und das Können, das ihr entwickeln konntet und die Hilfe und die Begleitung, die ihr dabei erfahren durftet, habt ihr nicht nur für euch alleine. Nutzt sie, um etwas zu verändern! Lasst nicht zu, dass die Erde weiter Schaden nimmt. Lasst nicht zu, dass Menschen ertrinken, weil es für sie keinen sicheren Weg in ein besseres Leben gibt. Lasst nicht zu, dass Egoismus, Protektionismus und Unmenschlichkeit Alternativen werden zu Solidarität und Nächstenliebe. – Hier gibt es keine Alternativen! – Lasst es nicht zu! Nutzt eure Gaben und Fähigkeiten, um etwas zu verändern! Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Es braucht dazu eine Menge Kraft, Mut, Fantasie… und Liebe. Nächstenliebe. Die ist die Größte.

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Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ja, heute schließt sich ein Kreis. Ihr seid dieselben Menschen, die vor acht Jahren als Fünftklässler hier gesessen haben, und seid doch nicht die gleichen. Vieles hat sich verändert. Ihr habt euch verändert. Gott kennt euch. Er hat euch als Fünfklässler schon ganz gesehen. Und Gott sieht euch heute ganz. In allem Bruchstückhaften, Unfertigen und Vorläufigen sieht er den ganzen tollen Menschen, der ihr seid. Deshalb: Erlaubt euch als die tollen Menschen zu leben, die ihr seid! Dabei helfen euch: Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei. Macht’s gut!