Predigt im Elterngottesdienst am Theodor-Fliedner-Gymnasium

Kinder sind ehrlich und direkt. So ehrlich und direkt, dass es manchmal weh tut. Zumindest ist das bei meinen Kindern so. Von ihnen weiß ich, was „Nur noch kurz…“ und „Augenblick noch…“ wirklich heißt: „Nein“. Ich weiß nicht mehr, ob ich einen Lego-Zweier von einem Lego-Achter entfernen sollte, im Playmobil-Schloss das Tor wieder einsetzen sollte oder die Batterie in der Katzen-Uhr auswechseln. Ist auch eigentlich ganz egal. Sie wollten, dass ich ihnen bei etwas helfe, mit ihnen etwas tue oder ihnen einfach nur zuhöre und Aufmerksamkeit widme. Aber ich sagte: „Augenblick noch…“ oder „nur noch kurz“ – Nur noch kurz den Absatz zu Ende tippen, das Kapitel auslesen, die E-Mail abschicken, die Datei speichern oder was auch immer… – Nur noch kurz… Augenblick noch! Das hat am Anfang ganz gut geklappt. Dann sind sie gegangen und noch einiger Zeit wiedergekommen. Die Antwort war allerding die gleiche: „Augenblick noch…“ Das ging ziemlich lange so, bis mein Sohn irgendwann sagte: „Also nein, dann sag das doch!“ – Ich habe das erst gar nicht richtig verstanden und erwidert: „Ich hab nicht nein gesagt, aber nicht jetzt. Ich muss noch kurz…“ – „Aber das heißt doch nein“, hat er gesagt, „nur noch kurz heißt nein!“ Das hat mich getroffen und mir zu denken gegeben. Ich versuche diese Floskeln seitdem gar nicht mehr zu benutzen. Entweder direkt nein zu sagen, oder aber ja und es dann auch zu tun. Ich fürchte allerdings, dass es mir nur selten gelingt. Das ist jetzt schon eine Weile her. Bei der Predigtvorbereitung fiel es mir wieder ein. Es passt ja auch zum Cartoon auf unserem Gottesdienstplakat. „Ich komm gleich!“, ruft der Hamster, „Ich dreh nur noch kurz mein Rad fertig.“ – Dinge fertigmachen, Aufgaben erledigen, das liegt stark im Trend. Noch vor einigen Jahren war das Gegenteil der Fall.[1] Da hatten es die Verhaltenspsychologen eher mit dem Aufschieben zu tun. Unangenehme Aufgaben wurden gerne auf später verschoben. Bekannt wurde dieses Verhalten als Prokrastination oder „Aufschieberitis“. Heute wird das entgegengesetzte Verhalten zu einem Problem, wie der Psychologe David Rosenbaum herausgefunden hat. Ihm zu folge erscheint es verlockend Dinge und Aufgaben, vor allem die schweren und unangenehmen, so schnell wie möglich zu erledigen. Selbst dann, wenn das keinerlei Vorteile mit sich bringt. Rosenbaum verwendet dafür den Begriff Präkrastination. In Analogie zur „Aufschieberitis“ könnte man das „Erledigeritis“ nennen. Warum wollen wir Dinge sofort erledigen, selbst wenn das keinerlei Vorteile für uns hat? Der Psychologe sagt, dass es uns stresst, wenn wir wissen, dass wir noch etwas zu erledigen haben, dass Aufgaben unabgeschlossen und wir mit Dingen noch nicht fertig sind. Die Gedanken daran gehen uns nicht aus dem Kopf und wir versuchen möglichst viel davon „noch kurz“ zu erledigen, um sie Gedanken daran loszuwerden. Zur Ruhe kommen wir demnach nur, wenn wir alle Aufgaben erledigt haben. Wenn wir mit der Arbeit fertig sind. Das Problem ist nur, dass wir irgendwie nie fertig sind. In der Schule gilt: Nach der Klassenarbeit ist vor der Klassenarbeit, nach der Korrektur ist vor der Korrektur. Und wenn sich der Terminplan des letzten Schuljahres schon dem Ende zuneigt, hat das letzte Update plötzlich eine Vorschau auf das kommende Schuljahr, vom neuen Plan ganz zu schweigen. Egal wie viel und wie intensiv wir arbeiten, wir sind nie wirklich fertig. Ich vermute, das ist in Ihren Berufen nicht anders. Und zu Hause, im Haushalt, im Garten, ja da erst recht… – Fertig sind wir tatsächlich nie! – Da müsste man schon Gott sein. Der hatte zwar wahrlich viel zu tun bei der Erschaffung der Welt, der Tiere und der Menschen, aber nach sechs Tagen war er fertig und ruhte sich aus! Das jedenfalls erzählt die Bibel:

So vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. (Gen 2,2)

Ja, Gott müsste man sein. Der wird fertig. Der hat’s gut! – Aber: Ist Gott denn wirklich fertig am Abend des sechsten Tages? Hat er sein Werk vollendet und kann sich nun zur wohlverdienten Ruhe setzen? Das ist eine theologisch brisante Frage. Hat Gott die Welt geschaffen und sich dann aus ihr und von ihr zurückgezogen? Ist er fertig mit der Welt und den Menschen und überlässt sie nun sich selbst? Oder hat Gott nur am siebten Tag geruht und sein Werk dann wiederaufgenommen? Beide Ansichten werden in der Theologie vertreten und es gibt sogar Fachbegriffe dafür. Dabei ist der biblische Befund ziemlich eindeutig: Nirgendwo geht die Bibel davon aus, dass Gott sich nach der Erschaffung der Welt zur Ruhe gesetzt hat. In der Geschichte seiner Schöpfung und seiner Geschöpfe spielt der Schöpfergott eine wichtige Rolle. Und das zu allen Zeiten. Auch Gott ist niemals fertig mit der Welt und trotzdem unterbricht er seine Arbeit und ruht sich aus. Ich habe gelernt, dass es im Bibeltext häufig auf die Kleinigkeiten ankommt. Wenn es heißt: Gott vollendete am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Dann kommt es darauf an, wie das und zwischen vollenden und ruhen zu verstehen ist. Handelt es sich um ein einfach verbindendes „und“ oder um ein verbindendes aber nicht subsummierendes? Werden zwei gleichberechtigte Aktionen verbunden oder gar zwei gegensätzliche? Jürgen Ebach, der emeritierte Bochumer Alttestamentler, meint, dass es sich hier um ein explikatives „und“ handelt. Die Ruhe ist nicht das Gegenteil der Arbeit, sondern ein unverzichtbarer Teil derselben. Man kann also übersetzen: Gott vollendete am siebenten Tag seine Werke, die er gemacht hatte, indem er von ihnen ruhte. Indem Gott seine Arbeit unterbricht, wird sein Werk erst vollendet ohne endgültig abgeschlossen zu sein. Bei der Ruhe geht es nicht ums fertig sein oder ums fertig werden, sondern um eine erholsame Unterbrechung! Für mich ist das eine wichtige Erkenntnis. Zwar sind wir wirklich nie fertig mit unserer Arbeit und mit unseren Aufgaben, aber wir können sie unterbrechen! – Theoretisch zumindest. Denn praktisch ist das gar nicht so einfach. Was heißt unterbrechen? Liegen lassen können, was nicht fertig ist. Eine Tasse Kaffee trinken, auch wenn rings herum noch Chaos herrscht. Die Tür zum Arbeitszimmer schließen, obwohl sich auf dem Schreibtisch noch Arbeit türmt. Das Handy ausschalten, obwohl dort Nachreichten eintreffen und das Schwierigste: Den Gedankenstrom stoppen, auch wenn nicht Fragen beantwortet und alle Probleme gelöst sind. – Ein solches Unterbrechen brauchen wir. Ja, wir brauchen eine Kultur des Unterbrechens, oder – religiös gesprochen – eine Sabbatkultur!

Sechs Tage soll man seine Arbeit verrichten, aber am siebenten Tag ist Sabbat, ein Tag völliger Ruhe, heilig dem HERRN. Wer eine Arbeit tut am Sabbattag, soll des Todes sterben. Darum sollen die Israeliten den Sabbat halten, dass sie ihn auch bei ihren Nachkommen halten als ewigen Bund. Er ist ein ewiges Zeichen zwischen mir und den Israeliten. Denn in sechs Tagen hat der HERR den Himmel und die Erde gemacht, am siebenten Tag aber hat er geruht und Atem geschöpft. (Ex 31,15b–17).

Klare, ja harte Worte. Es scheint mir als weiß die Bibel wie schwer es uns fällt, den Sabbat zu halten. Eine wirkliche Unterbrechung in unserer Arbeitswoche zu haben, in der die Arbeit ruht und die Gedanken nicht um sie kreisen. – Sechs Tage soll man seine Arbeit verrichten, aber am siebenten Tag ist Sabbat, ein Tag völliger Ruhe, heilig dem HERRN. – Das muss nicht notwendig der Samstag bzw. der Sonntag sein, aber der ist dafür natürlich besonders geeignet, weil er – zumindest theoretisch – für viele Menschen arbeitsfrei ist. Machen wir ihn doch auch praktisch dazu! Dazu müssen wir – wenigstens am Anfang – wahrscheinlich ziemlich streng und konsequent sein. Gute Vorsätze und wage Ideen alleine werden nicht ausreichen. – Wer eine Arbeit tut am Sabbattag, soll des Todes sterben. – Ich lese das schon als Warnung: Wer ständig Arbeit tut am Sabbattag, läuft Gefahr eines zu frühen Todes sterben. Ich lese es aber auch als Appell zu einer konsequenten Umsetzung: Wer nur noch kurz eine Arbeit tut am Sabbattag, macht den Anfang vom Ende des Sabbats. Wenn wir eine Sabbatkultur wollen, dann müssen wir streng sein. Dann müssen wir mit allen in der Familie zusammen überlegen, was alles für den Sonntag „tödlich“ ist. Was unter allen Umständen unterbrochen werden muss. Was auch nicht „nur noch kurz“ erledigt werden darf. Genauso wichtig ist es, dass wir gemeinsam überlegen, was wir stattdessen tun werden. Wie wir die Zeit verbringen, die frei wird. Worüber wir nachdenken und wovon wir reden wollen, wenn Schule und Arbeit kein Thema sein dürfen. Wir müssen sie gemeinsam entwickeln, unsere Sabbatkultur. Wenn sie zur Familienkultur wird, hat sie eine größere Chance auch tatsächlich gelebt zu werden. – Darum sollen die Israeliten den Sabbat halten, dass sie ihn auch bei ihren Nachkommen halten als ewigen Bund.  Ich lese das als Erinnerung an unsere Erziehungsverantwortung: Den Umgang mit Arbeit und Freizeit, den Unterschied von Werktag und Feiertag, die Sabbatkultur des Unterbrechens können unsere Kinder – in einer Welt der Erledigeritis und Sofortness – nur bei uns und von uns lernen. Den Sabbat sind wir nicht nur Gott, unserem Schöpfer, schuldig, sondern auch unseren Kindern und deren Kindern, denen sie ihn weitergeben werden. – In sechs Tagen hat der HERR den Himmel und die Erde gemacht, am siebenten Tag aber hat er geruht und Atem geschöpft.– Die Bibel gibt uns eine weitere Hilfestellung. Sie sagt uns, dass seit der Schöpfung ein ein Tag bereits am Abend des Vortages beginnt. Das ist für die Sabbatkultur ganz praktisch: Der Sonntag beginnt dann schon am Samstagabend, wenn die Sonne untergeht. Am Sonntagabend, wenn es dunkel wird, beginnt bereits der Montag. Das heißt, die Vorbereitungen für und das Nachdenken über die neue Arbeitswoche können problemlos ihren Platz finden. Am Sonntagabend, weil dann schon Montag ist, aber nicht vorher! – Der Sabbat ist ein ewiges Zeichen zwischen mir und den Israeliten. – Ich lese das so: Nicht an ihrer pausenlosen Arbeit erkennt man die Kinder Gottes, sondern daran, dass sie ihre Arbeit regelmäßig unterbrechen. Das war schon in der Antike etwas, das Israel von anderen Völkern unterschied. Für die Ägypter, Römer und Griechen war die Sabbatkultur etwas Kurioses. Sie dienten ihren Göttern durch ihre Arbeit und nicht durch die Arbeitsruhe. Denn als Arbeiter und Diener waren sie ihren Schöpfungsmythen nach von den Göttern geschaffen worden. Die biblischen Schöpfungserzählungen sehen das anders. Der Menschen ist von Gott als sein Ebenbild geschaffen. Ein freies Wesen, das zu einem Leben in Gemeinschaft mit Gott bestimmt ist. Diese Gottebenbildlichkeit und die Gemeinschaft mit Gott kommen auch in der menschlichen Arbeit zum Ausdruck. Der Mensch kann und soll mitarbeiten an Gottes Schöpfung, sie bebauen und bewahren, sie mit seiner Kreativität und seinem Forschergeist durchdringen und weiterentwickeln. Dieser seiner Schöpfungsbestimmung wird der Mensch aber nicht gerecht, indem er bis zum Umfallen arbeitet, sondern in dem er seine Arbeit unterbricht. So wie Gott am siebenten Tag sein Werk vollendete, indem er die Arbeit unterbrach und ausruhte. Deshalb ist in der Bibel nicht der Mensch die Krone der Schöpfung und auch nicht die Arbeit, sondern der Sabbat. Deshalb gibt es in der Bibel kein Gebot „Du sollst arbeiten“. Wohl aber das Gebot: „Du sollst den Sabbat halten“. Daran erkennt man die Kinder Gottes, die Söhne und Töchter Israels und die Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi, dass sie – um Gottes Willen –  regelmäßig ihre Arbeit unterbrechen.


[1] Zum Folgenden vgl. Johannes Künzel: Präkrastination: Der Zwang zum Soforterledigen, in: Psychologie heute 6/2014, https://www.psychologie-heute.de/news/gesundheit-psyche/detailansicht/news/praekras-tination_der_zwang_zum_soforterledigen (Abruf: 11.03.17).