Die Frage ist – für eine evangelische Schule in kirchlicher Trägerschaft – naheliegend und doch so leicht nicht zu beantworten. Sicher gibt es die eine oder andere spontane Antwort, doch bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Antworten als deutlich weniger tragfähig als gedacht. Zwei mögliche Antworten sollen das verdeutlichen:

Da wären zunächst spezifische Angebote wie regelmäßige Gottesdienste und Andachten, Seelsorgegespräche, Religionsunterricht für alle Schülerinnen und Schüler, die Einrichtung einer Schulpfarrstelle. Das alles ist richtig und wichtig und wird von außen und innen deutlich wahrgenommen, benannt und eingefordert. Aber welchen Rang haben solche spezifischen Angebote? Sind sie nur hinreichende oder auch notwendige Bedingung für eine evangelische Schule? Das heißt: Ist eine Schule evangelisch, dann kann man zu recht erwarten, dass sie solche spezifischen Angebote vorhält. Aber gilt auch die Umkehrung? Machen diese spezifischen Angebote alleine eine Schule zu einer evangelischen Schule? –So wichtig die genannten Angebote sind, sie ersetzen nicht ein evangelisches Ethos in den anderen Bezügen des Schullebens.

Eine zweite Antwortmöglichkeit setzt bei den Menschen an, die eine Schule prägen: Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und deren Eltern, sowie die weitern Mitarbeitenden an der Schule und beim Schulträger. Die Gesamtheit dieser Menschen wird auch als „Schulgemeinde“ bezeichnet. Dabei steht ein bürgerschaftlicher Gemeindebegriff Pate, kein kirchlicher oder theologischer. Aber sollte und müsste das nicht bei einer kirchlichen Schule anders sein? Sind hier nicht Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, die Eltern und die Mitarbeitenden ihrem Bekenntnis und ihrer Kirchenzugehörigkeit nach evangelisch? – Für die Lehrerinnen und Lehrer und die Mitarbeitenden stimmt das zum größten Teil. Eine Ausnahme bilden nur die katholischen Religionslehrerinnen und -lehrer und die Referendarinnen und Referendare. Bei den Schülerinnen und Schülern liegt die Quote der Evangelischen am Theodor-Fliedner-Gymnasium bei etwa 70%. Von deren Eltern müsste – gemäß der Aufnahmekriterien – mindestens ein Teil Mitglied der Evangelischen Kirche sein. Doch kann daran das Evangelische einer evangelischen Schule festgemacht werden? Zunächst mal wäre zu fragen, was mit den 30% der Schülerinnen und Schüler und deren Eltern ist, die nicht der Evangelischen Kirche angehören. Gehören sie gleichwertig zur Schulgemeinde, wenn deren Besonderheit darin besteht, dass ihre Mitglieder evangelisch sind? Weiter wäre zu fragen, wie „evangelisch Sein“ hier verstanden wird. Als Mitgliedschaft in einer Evangelischen Landeskirche? Als individuelles Bekenntnis? Ersteres kann man formal noch überprüfen, letzteres nur schwer. Doch selbst wenn das ginge und sichergestellt werden könnte, dass die gesamte Schulgemeinde evangelisch ist, wäre das Evangelische dieser Schule damit hinreichend beschrieben? Oder ist das Evangelische einer evangelischen Schule doch mehr als die Summe der an ihr lehrenden und lernenden evangelischen Mitglieder?

Es zeigt sich schon an diesen beiden Antwortversuchen, dass die Frage nach dem Evangelischen einer evangelischen Schule so leicht und monokausal nicht zu beantworten ist. Die Problemstellung erinnert an das erste Halbjahresthema in der Jahrgangsstufe 10/EF für den Religionsunterricht. Die Schülerinnen und Schüler suchen Antworten auf die Frage: „Was ist Religion?“ Dabei müssen sie sich unter anderem mit der Position Paul Tillichs[1] auseinandersetzen. Vielleicht lässt sich etwas von seinen Überlegungen auf unser Problem übertragen.

Paul Tillich und der Ort der Religion

Untersucht wird von Tillich die Frage, in welcher Weise Religion eine schöpferische Funktionen des menschlichen Geistes ist.[2] Dazu versucht er ihren Ort zu bestimmen neben den drei Grundfunktionen des menschlichen Geisteslebens: Ethik, Erkenntnis und Ästhetik. Tillich beschreibt, „wie die Religion von einer geistigen Funktion zur anderen wandert, um Heimat zu finden“[3]:

So kommt die Religion zur ethischen Funktion und klopft an, überzeugt, dass man sie empfangen wird. Sind nicht das Ethische und das Religiöse am nächsten miteinander verwandt? Wie kann man die Religion abweisen? Und tatsächlich wird die Religion nicht abgewiesen, sondern aufgenommen. Aber man nimmt sie als ‚arme Verwandte’ auf, und um sich ihre Stelle im Reich des Sittlichen zu verdienen, soll sie der Sittlichkeit dienen. Solange sie mithilft, gute Bürger, Ehegatten und Kinder, gute Angestellte, Beamte und Soldaten zu schaffen, wird sie geduldet. In dem Augenblick aber, in dem die Religion einen eigenen Anspruch stellt, bringt man sie entweder zum Schweigen oder wirft sie als überflüssig oder gefährlich für die Moral hinaus.[4]

Ähnlich ergeht es der Religion auch bei der Erkenntnis und bei der Ästhetik. Zunächst findet sie Aufnahme, wird dann aber entweder überflüssig – weil sie nichts Neues und Eigenes einbringt, oder lästig, weil sie zu deutlich Neues und Eigenes einbringt. Schließlich landet sie wieder draußen. In ihrer Not sucht die Religion daher Zuflucht im Gefühl:

Religion als Gefühl, das scheint ihrem Umherirren ein Ende zusetzen. Und dieses Ende wird von all denjenigen beifällig begrüßt, die nicht wünschen, dass sich die Religion in das Reich der Ethik und der Erkenntnis einmischt. Ist erst die Religion in das Reich des bloßen Gefühls verbannt, dann hört sie auf, dem Denken und Handeln des Menschen gefährlich zu sein. Aber, muss ergänzt werden, sie verliert auch ihren Ernst, ihre Wahrheit und ihren letzten Sinn. In der Atmosphäre der reinen Subjektivität, ohne einen letzten Inhalt geht die Religion zugrunde. Auf die Frage nach der Religion als einer Funktion des menschlichen Geistes ist also auch das keine Antwort.[5]

Nach all den fehlgeschlagenen Versuchen der Verortung der Religion im menschlichen Geist, kommt Tillich zu dem Schluss, dass die Religion einen solchen Ort gar nicht braucht:

Die Religion ist keine spezielle Funktion, sie ist die Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens. (…) Was bedeutet diese Metapher der Tiefe? Sie bedeutet, dass die religiöse Dimension auf dasjenige im menschlichen Geisteslebens hinweist, das letztlich, unendlich, unbedingt ist. Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen desmenschlichen Geistes. Es wird offenbar in der Sphäre des Ethischen als der unbedingte Ernst der ethischen Forderung (…), in dem Reich des Erkennens als das leidenschaftliche Verlangen nach letzter Realität (…), in der ästhetischen Funktion des menschlichen Geistes als die unendliche Sehnsucht nach dem Ausdruck des letzten Sinnes (…). Die Religion ist die Substanz, der Grund und die Tiefe des menschlichen Geisteslebens. Das ist die religiöse Dimension des Menschlichen Geistes.[6]

„Wertschätzende Erkundung“ als Weg in die Tiefe

Tillichs Überlegungen können uns in unserer Fragestellung weiterhelfen. Denn wir suchen nicht ein besonderes evangelisches Angebot, das neben die sonstigen Aufgaben einer Schule gestellt werden könnte, um sie so zu einer evangelischen Schulen zu machen (s.o.) und wir sehen auch, dass das Evangelische einer Schule nicht allein in evangelischen Schülern, Lehrern und Eltern (s.o.), bestehen kann. Wir suchen vielmehr die Substanz, den Grund und die Tiefe evangelischen Schule-Seins. Doch wie sieht das aus? Wie sind Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Schulträger, usw. daran beteiligt? Wie finden wir den Weg in die Tiefe?

Häufig wählen wir beinahe automatisch den Weg der Negation. Statt nach dem Gesuchten zu fahnden, schauen wir, wo und wie das Gesuchte nicht zu finden ist. Wir stellen relativ leicht und schnell fest, wo an unserer Schule etwas nicht evangelischen bzw. christlichen Grundsätzen entspricht. Dabei wird leicht vergessen, dass es Momente und Situationen im Schulalltag gibt, in denen evangelisches Schule-Sein gelebt und erlebt wird. Gerade diese Momente und Situationen können uns den Weg weisen, wenn wir nach dem suchen, was unsere Schule – als Tiefendimension des Schullebens – evangelisch macht. Die Methode Appreciative Inquiry des amerikanischen Professors für organisationsbezogene Verhalten, David Cooperrider[7], will Menschengruppen und Organisationen dabei helfen.

Diese Methode heißt direkt übersetzt ‚wertschätzende Erkundung’ und ist die konsequente Abkehr vom defizitorientierten Vorgehen (Was ist das Problem? Was läuft schief? Wer ist schuld?) hin zur Ressourcen- und Lösungsorientierung (Was läuft gut? Weshalb? Wie können wir das noch weiter ausbauchen bzw. auf andere Bereiche übertragen?). (…) Begonnen wird mit dem Erkunden, Verstehen und Wertschätzen dessen, was bereits da ist.[8]

Der gesamte Prozess der wertschätzenden Erkundung gliedert sich in vier Phasen. Zunächst gilt es die Ressourcen und vorhandenen Möglichkeiten zu entdecken (Discovery). Dann ist die Vision einer gemeinsamen Zukunft zu entwickeln, in der mehr des bisher schon Guten verwirklicht ist (Dream). Dann gilt es die Vision zu konkretisieren. Es soll genau beschrieben werden, woran zu erkennen sein wird, dass die Vision Wirklichkeit geworden ist (Design). Schließlich werden konkrete Schritte und Maßnahmen zur Umsetzung geplant (Destiny).[9]

In unserer Fragestellung befinden wir uns in der ersten Phase. Es geht darum zu erkunden, zu verstehen und wertzuschätzen, was auf allen Ebenen des Schullebens bereits da ist. Dazu müssen wir uns von Begebenheiten und Situationen erzählen, in denen etwas vom evangelischen Schule-Sein zu spüren war. Wir müssen uns fragen, was in dieser Situation genau passiert ist. Warum sie uns besonders in Erinnerung geblieben ist. Dann fragen wir weiter, was diese gute Erfahrung möglich gemacht hat, wer daran wie beteiligt war und was die Situation begünstigt hat. Schließlich können wir noch überlegen, was wir aus dieser guten Erfahrung lernen können, ob und wie sie sich auf andere Situationen übertragen lässt, wo wir im Schulalltag mehr davon brauchen können.

Die evangelische Tiefendimension unserer Schule

Im Rahmen eines Themenabends mit Lehrerinnen und Lehrern und Eltern und im Religionsunterricht der Jahrgangsstufe 12 haben erste Versuche stattgefunden mit Hilfe der wertschätzenden Erkundung die evangelische Tiefendimension am Theodor-Fliedner-Gymnasium auszuloten. Nach einem Impulsvortrag zur Einführung in die Fragestellung und zur Erläuterung der Methode, ist in Kleingruppen gearbeitet worden. Die Gruppen sind gebeten worden festzuhalten, was die von ihnen gemachten guten Erfahrungen möglich gemacht oder wenigstens begünstigt hat. Die Ergebnisse können unter sechs Überschriften zusammengefasst werden:

Menschenbild

Hinter den Erzählungen in den Kleingruppen sind zwei Grundüberzeugungen in der pädagogischen Arbeit des Theodor-Fliedner-Gymnasiums sichtbar geworden. Zum einen das Bemühen in jedem Einzelnen jeweils das Positive zu sehen und zu fördern. Die Grundhaltung der Lehrerinnen und Lehrer wird als „Menschen zugewandt“ beschrieben. Sie bemühen sich auf die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler einzugehen und bei jeder und jedem auch die versteckten Talente zu entdecken und zu fördern. Zum anderen wird aber auch der Umgang mit Negativem als Besonderheit wahrgenommen. Probleme werden individuell wahr- und erstgenommen und es wird gemeinsam mit allen Beteiligten – Schülern, Lehrern und Eltern – nach Lösungen gesucht. Sollte sich die Suche als nicht erfolgreich und ein „Scheitern der Schullaufbahn“ als unabwendbar erweisen, so wird auch das Scheitern pädagogisch und seelsorgerlich begleitet, um neue Perspektiven zu entwickeln.

Theologisch gesprochen ist hier ein Blick auf den Menschen gemeint, der ihn als einzigartiges Geschöpf Gottes mit besonderer Begabung und unbedingtem Wert wahr- und annimmt. Dabei ist kein Mensch perfekt. Als Sünder und Gerechte zugleich machen alle Menschen immer wieder Fehler und scheitern mit dem, was sie sich vornehmen. Das ernst zu nehmen bedeutet, sich neben den Stärken auch die eigenen Schwächen zuzugestehen und dabei nicht zu vergessen, dass wir Menschen aus Gottes Gnade und aus seiner Vergebung leben.

Bildungsverständnis

Die geteilten Situationen und Erfahrungen aus dem Schulalltag haben den ganzheitlichen Ansatz im Bildungsverständnis des Theodor-Fliedner-Gymnasiums als wichtig erscheinen lassen. Vor allem die vielfältigen Angebote neben dem Unterricht mit einem Schwerpunkt in der musikalischen und künstlerischen Förderung sind dabei in den Blick geraten. Schülerinnen und Schüler bekommen hier nicht nur Gelegenheit ihre besonderen Talente zu entdecken und auszubauen, sie lernen auch ihren Fragen und Antworten, Gedanken und Gefühlen, Sinn- und Sinnlosigkeitserfahrungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung sinnstiftenden Ausdruck zu verleihen.

Theologisch wird Bildung hier als Menschenbildung verstanden. Es geht nicht allein um die Ausbildung bestimmter für die Gesellschaft wichtiger Fähigkeiten und Einstellungen, sondern auch und vor allem um die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Unterrichtliche und außerunterrichtliche Bildungsangebote zielen darauf ab, dass Schülerinnen und Schüler ihre Lebenswirklichkeit für sich erschließen, und dass sie sich selbst für diese ihre Lebenswirklichkeit erschließen, damit sie als Gottes Kinder in seiner Schöpfung dankbar leben.

Gemeinschaftserfahrung

Hinter den von Eltern und Lehrer vor allem aber von den Schülerinnen und Schülern geteilten Situationen aus dem Schulleben ist besonders häufig eine besondere Gemeinschaftserfahrung auszumachen. Das Gefühl einer Zusammengehörigkeit nicht nur der Schülerinnen und Schüler, sondern all derer, die am Schulleben beteiligt sind – Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Eltern – ist den Erfahrungen nach im Schulleben immer wieder spürbar. Fahrten, Feiern, Aktionen, Projekte, AGs und Strukturen werden als Orte und Zeiten erfahren, an und in denen die anderen neu wahrgenommen und kennengelernt werden können. An und in denen praktisch eingeübt wird Unterschiede und Andersartigkeit nicht nur zu akzeptieren, sondern als Bereicherung zu erleben. An und in denen Offenheit, Hilfsbereitschaft und Diskussionskultur als tragfähig und konstruktiv erlebt werden. An und in denen deutlich wird, dass gelebte Gemeinschaft mehr ist als die Summe der an ihr beteiligten Einzelnen.

Theologisch kommt hier der Gedanke zum Tragen, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist, zu dessen Schöpfungsbestimmung es gehört in lebendiger Gemeinschaft zu leben. Die Zusammengehörigkeit und das Verbindende zwischen Menschen muss von ihnen nicht gemacht oder hergestellt werden, sondern ist ihnen als Gabe und Aufgabe bereits vorgegeben. Dem in einer Schulgemeinschaft Zeit, Raum und Struktur zur Entfaltung zu geben, damit all die unterschiedlichen und einzigartigen Menschen in versöhnter Verschiedenheit mit der Freiheit zu je individueller Nähe und Distanz zusammen lernen und leben können, entspricht der biblischen Vorstellung von der Einheit des Leibes Christi.

Glaubenserfahrung

Es fällt zunächst auf, dass unter den in den Kleingruppen geteilten Situationen und Erfahrungen klassische Formen gelebter Spiritualität und kirchlichen Handelns – wie Andachten, Gottesdienste und Seelsorge – relativ wenig zu finden sind. Ihre Tiefenwirkung wird aber hinter den Erzählungen sichtbar. So war in den Kleingruppen davon die Rede, dass vom christlichen Glauben und vom evangelischen Geist „etwas mitschwingt“ in alltäglichen Arbeit am Theodor-Fliedner-Gymnasium – wie z.B. bei der Einschulung der Sextaner –, dass er „durch und in Personen wirksam ist“ – deren Haltung und Handlung durch den Glauben bestimmt sind – und dass er manchmal in „emotional dichten Situationen“ – wie z.B. im Abschlussgottesdienst der Auswertungstagung zum Sozialpraktikum – erfahrbar wird.

Theologisch sind hier Situationen angesprochen, in der die Welt und das Leben durchsichtig werden für das, was jenseits unserer rationalen Weltsicht und Lebenserfahrung liegt. Wenn die ganz eigene Dynamik eines Schuljahres oder die ambivalente Erfahrung des Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehren, wenn die Themen und Fragen der Schülerinnen und Schüler oder die Höhen und Tiefen des Elternseins, wenn die Betroffenheit durch nahe oder ferne Ereignisse oder die persönlichen Krisen eines einzelnen seelsorgerlich und liturgisch begleitet und unter den Segen Gottes gestellt werden, dann berühren sich für einen Moment Himmel und Erde und es werden Glaubenserfahrungen gemacht. Dabei ist Glaube nicht das Fürwahr Halten bestimmter Inhalte und Überzeugungen, sondern das daseinsbestimmende Vertrauen in Gottes Gegenwart.

Lernort und Lebensraum

Für das Zustandekommen besonderer Erfahrungen im Schulleben werden auch die Lage der Schule als „Insel inmitten der Felder“ und die räumliche Ausstattung – vor allem das Kinderhaus und die Cafeteria – als wichtig benannt. Die Lage der Schule und ihre Räume werden als „sprechend“ erlebt. Sie sprechen die Sprache der „Freiheit, Geborgenheit und Gemeinschaft“.

Theologisch ist hier der Zusammenhang von Raum und Beziehung angesprochen, der besonders häufig in den Erzählungen des Alten Testaments zu finden ist. Orte und Räume sind dadurch qualifiziert, dass an und in ihnen besondere Beziehungserfahrung gemacht werden können. So nennt z.B. Hagar die Wasserquelle in der Wüste, an der sie einem Boten Gottes begegnet ist, „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (Gen 16,14). Die jüdische Tradition kennt für Gott den Namen Ha-Maqom, übersetzt Der Ort oder Der Raum. Gottes Name und damit Gott selbst ist Schutzraum und Lebensort zugleich. Eine Schule, die soziologisch betrachtet für Schülerinnen und Schüler ein lebensweltlich relevanter Ort, an dem sie viel Zeit verbringen und prägende Erfahrungen machen, kann im Blick auf ihre evangelische Tiefendimension immanent wie transzendent Lernort und Lebensraum sein.

Lernfelder Ökumene und Diakonie

In der Arbeit der Kleingruppen sind von Schülern, Lehrern und Eltern häufig das Sozialpraktikum und die Begegnungsfahrten nach Rwanda und Israel als besondere Erfahrungen genannt worden. Die Möglichkeit „über den Tellerrand“ hinauszublicken und Menschen zu begegnen, die unter anderen gesellschaftlichen, ökonomischen, gesundheitlichen und sozialen Bedingungen leben als es der Lebenswirklichkeit im Düsseldorfer Norden entspricht, führt bei vielen zu einem heilsamen Perspektivwechsel, der Demut und Dankbarkeit für die eigenen Lebensmöglichkeiten ebenso einschließt wie den Impuls nach einer friedlicheren und gerechteren Welt zu fragen und über die Möglichkeiten eines eigenen Beitrags dazu nachzudenken.

Theologisch kommen hier Ökumene und Diakonie als integrale Bestandteile des christlichen Glaubens in den Blick. Dass Kirche immer „Kirche für andere“ sein und eine „vorrangige Option für die Armen“ haben muss, um wahrhaft Kirche Jesu Christi sein zu können, kann hier ganz praktisch gelernt werden. Dass Christentum kein deutsches oder europäisches, sondern ein weltweites und kulturell vielfältiges Phänomen ist, wird erlebbar. Dass evangelische Christinnen und Christen aus Deutschland nicht nur wegen der nationalsozialistischen Vergangenheit eine besondere Verantwortung für Jüdinnen und Juden haben, sondern das Christentum aus theologischen Gründen untrennbar mit dem Schicksal des Volkes Israel verbunden ist, kann neu entdeckt werden.

Schlussbemerkung

Die hier dargestellten Ergebnisse sind aufgrund der schmalen Datenbasis, auf der sie beruhen, sicher nicht verallgemeinerbar. Dennoch zeigt dieser erste Versuch, dass die Methode der wertschätzenden Erkundung zur Entwicklung des evangelischen Profils einer Schule in kirchlicher Trägerschaft durchaus eignet. Drei Fragen sind in diesen ersten Erprobungen aufgetaucht und sollen abschließend noch bedacht werden:

(1.) Ist das, was die wertschätzende Erkundung an Ergebnissen sichtbar macht, nicht etwas, das an allen guten Schulen – egal ob konfessionell oder staatlich – zu finden ist?

Ein Alleinstellungsmerkmal sind die genannten Punkte nicht. Aber danach ist bewusst auch nicht gefragt worden. Die Tiefendimension des evangelischen Schule-Seins am Theodor-Fliedner-Gymnasium führt an dieser Schule zur Erfahrung Schüler oder Schülerin, Lehrer oder Lehrerin, Schülervater oder Schülermutter an einer besonders guten Schule zu sein. Dass es besonders gute Schulen gibt, die einem anderen Profil folgen, ist davon unbenommen.

(2.) Sind als Ergebnisse der wertschätzenden Erkundung nicht letztlich die zentralen Profilanforderungen evangelischer Schulen herausgekommen?

Die herausgearbeiteten Tiefendimensionen entsprechen tatsächlich weitgehend den fünf zentralen Profilansprüchen evangelischer Schulen: (i) Ein protestantisches Bildungsverständnis, (ii) Heterogenität als pädagogischer Auftrag und Chance, (iii) religiöse Bildung und Orientierung, (iv) Schule als vernetzter Lern- und Lebensort und (v) Schule als lernende Organisation.[10] Sie sind aber in der methodischen Vorgehensweise nicht vorausgesetzt worden und den wenigsten der beteiligten Schülern, Lehrern und Eltern explizit bekannt. Dass sich hier auf empirischem Weg eine Korrelation zur Theorie abzeichnet, spricht für die Theorie und für die Praxis.

(3.) Was bedeuten die Arbeitsergebnisse für die Praxis des Schulalltags am Theodor-Fliedner-Gymnasium?

Die Ergebnisse können der Selbstvergewisserung dienen: (i) Das Schulleben am Theodor-Fliedner-Gymnasium lässt sich als evangelisches Schule-Sein wahrnehmen und erleben. Das kann zu einem selbstbewussten Umgehen mit dem evangelischen Profil der Schule ermutigen. (ii) Das Miteinander von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, Mitarbeitenden und Eltern führt dazu, dass die beschriebenen Erfahrungen gemacht werden können. Evangelisches Schule-Sein gibt es nur in der Gemeinschaft aller an der Schule Beteiligten. (iii) Das Schulprofil kann ausgehend von den positiven Erfahrungen weiterentwickelt werden. Ein Weg dahin kann die wertschätzende Erkundung dessen sein, was an tiefgründiger Praxis evangelischen Schule-Seins schon vorhanden ist und als Potenzial weiter entwickelt werden kann.


* Ausgearbeiteter Impulsvortrag des Themenabends mit Lehrer/innen und Eltern am Theodor-Fliedner-Gymnasium der Evangelischen Kirche im Rheinland in Düsseldorf-Kaiserswerth am 9. Oktober 2013 [Download als pdf-Datei].

[1] 1886–1965; deutscher und später US-amerikanischer evangelischer Theologe und Religionsphilosoph.

[2] Die ganze Frage, ob Religion aus christlicher Perspektive überhaupt als eine Funktion des menschlichen Geistes angesehen werden kann (vgl. Tillich, Paul: Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit [Stundenbuch 9], Hamburg 1962, 20–23), wird hier ausgeklammert. Wir nehmen Tillichs Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von menschlichen Geistesfunktionen und Religion als Heuristik für unsere eigene Fragestellung.

[3] A.a.O., 24.

[4] Ebd.

[5] A.a.O., 25f.

[6] A.a.O., 23.26f.

[7] Siehe dazu: Großgruppenveranstaltungen in der politischen Bildung. Konzepte und Methodenüberblick. Praxis, Methoden und Moderationen, hg.v. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005, 11–13.

[8] A.a.O., 11.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. Wiss. Arbeitsstelle Ev. Schule (WAES): Lehrerinnen und Lehrer an evangelischen Schulen. Kompetenzprofil und Kriterien für Fortbildung, Hannover 2009, 12f.