Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

heute müssen wir über euer „erstes Mal“ reden. – Nein, nein, nicht über das, was ihr jetzt denkt. – Wir müssen über andere „erste Male“ reden, über das Anfangen und über das Anfänger-Sein. Für mich war es in eurer Stufe zum Beispiel ein erste Mal als Klassenlehrer und ein erste Mal als Leistungskurslehrer. Für euch alle ist es definitiv das erste Mal, dass ihr das Abitur bestanden habt und die Schule verlasst.

Wenn man etwas zum ersten Mal macht, das ist das in jedem Fall etwas Besonderes. Ein Neuanfang, bei dem man nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann. Es ist das „erste Mal“. Ihr seid natürlich nicht die allerersten, die Abitur machen und die Schule verlassen. Vielleicht habt ihr ältere Geschwister und/oder Freunde, die euch diese Erfahrung voraushaben. Dann sind da noch die Eltern und Großeltern, Tanten und Onkel. Hier in der Kirche sind viele Experten für Neuanfänge und „erste Male“. Aber ich sag euch was: In eurem Leben seid ihr definitiv die ersten!

Vor euch liegt etwas Neues: Eine Zeit ohne Klausuren, Referate, Vokabeln und Formeln. Ohne Stundenpläne und Montage mit ersten Stunden. Eine Zeit eigener Pläne, vieler Möglichkeiten und neuer Ziele. Eine Zeit größerer Selbstständigkeit. Das eigene Leben nach eigenen Regeln. Vielleicht sogar in der eigenen Wohnung, in einer anderen Stadt, oder gar in einem anderen Land. Aber auch eine Zeit ohne das, was die letzten 12 Jahre – also fast immer – euren Alltag bestimmt hat. Was euch über Jahre hinweg jeden Tag mit den Menschen zusammengebracht, die ihr schätzen und mache lieben gelernt habt. Die Fahrt auf der TFG-Achterbahn1 hat euch ganz eng zusammengeschweißt. Was wird aus den Freundschaften und Beziehungen, wenn ihre ab morgen auf unterschiedlichen Wegen geht? Werden sie bestehen, wenn der gemeinsame Alltag und die gemeinsamen Themen wegfallen? – Neuanfänge sind ambivalent.

Ich vermute, euren Eltern geht es nicht viel anders, auch wenn sie das vielleicht nicht zugeben. Euch am Ende der Schulzeit mit euren Abiturzeugnissen zu sehen, macht sie glücklich und stolz. Die turbulente Fahrt auf der TFG-Achterbahn haben eure Eltern ja nicht nur von außen beobachtet, sondern waren so manches Mal mit von der Partie. Das die Achterbahn heute ins Ziel rollt, ist ganz sicher auch eine Erleichterung. Gleichzeitig heißt das für eure Eltern aber, euch jetzt noch mal wieder ein Stückchen weiter loszulassen. Das aber ist leichter gesagt als getan. In aller Regel halten die Eltern stärker fest als die Kinder. Auch für Sie als Eltern ist das heute ein Neuanfang und, auch wenn Sie schon Erfahrung damit haben, bei diesem Kind ist es das „erste Mal“. Wie macht man das mit den Anfängen? Wie gelingt das „erste Mal“?

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Um mir biblischen Rat einzuholen, habe ich als Predigttext den Anfang eines Anfängers ausgewählt. Den allerersten Vers des Markusevangeliums:

Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

(Markus 1,1)

Markus ist tatsächlich ein Anfänger im Aufschreiben des Evangeliums. Er ist – soweit wir wissen – der erste, der das gemacht hat. Ich stelle mir das ziemlich schwer vor. Bekanntlich ist ja beim Schreiben der Anfang besonders schwer. Vor einem weißen Blatt sitzend den richtigen Anfang zu finden, ist eine echte Herausforderung. Vielleicht sogar eine Überforderung.

Ich habe in den Jahren am TFG viele Abiturientinnen und Abiturienten kennengelernt die sich mit dem Anfang der Zeit nach der Schule tatsächlich überfordert sahen. Die neue Freiheit und die Vielzahl der Möglichkeiten haben bei ihnen mehr Fragen aufgeworfen haben als Antworten geliefert: Wie lassen sich meine Hoffnungen und Träume erfüllen? Kann ich den Erwartungen gerecht werden – meinen eigenen und denen, die andere an mich stellen? Was ist es eigentlich, was ich machen möchte? Was ist mein Ziel? Was passt zu mir? Was fühlt sich richtig an? Wer die Wahl hat, der hat ja sprichwörtlich auch die Qual. Einen Studiengang zu wählen und sich für ein Berufsfeld zu entscheiden, bedeutet auch, sich gegen all die anderen Studiengänge und Berufsfelder zu entscheiden, die auch reizvoll und erfolgversprechend sind. Dazu kommt die Angst, sich falsch zu entscheiden. Denn entscheiden zu können bedeutet auch, für die eigene Entscheidung verantwortlich zu sein. Häufig entsteht dann der Gedanke, jetzt am Ende der Schulzeit, den einen richtigen Anfang für die eigene Zukunft finden zu müssten … und das macht Angst.

Damit seid ihr übrigens nicht alleine. Auch eure Eltern haben Angst. Wenn wir ganz ehrlich sind, liebe Eltern, dann haben wir seit der Geburt unserer Kinder bereits geahnt, dass wir ihr Leben und ihre Zukunft letztlich nicht in der Hand haben. Wir können nicht machen, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden… und das macht Angst.

Für alle – Abiturienten und Eltern – beginnt heute etwas Neues. Das ist schon ein bisschen so wie bei Markus, der vor einem weißen Blatt sitzt, um als erster das Evangelium von Jesus Christus aufzuschreiben. – Wie denrichtigen Anfang finden?

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Markus schreibt: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus. – Fällt euch etwas auf? – Es fehlt der Artikel. Im griechischen Urtext steht „Anfang“ hier ohne Artikel. Das heißt, man kann „Anfang“ hier auch unbestimmt übersetzen. Dann heißt die Stelle: Ein möglicher Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Vielleicht war Markus ja auch nicht so ganz sicher, was den Anfang seines Evangeliums betrifft. Immerhin unterscheiden sich die vier Evangelien ja gerade in ihren Anfängen stark voneinander. Matthäus beginnt das Evangelium mit dem Stammbaum Jesu. Lukas beginnt mit der bekannten Geschichte der Geburt. Johannes macht es ganz anders und beginnt mit einem Loblied auf das göttliche Wort. Es gibt also tatsächlich mehrere mögliche Anfänge für das Evangelium von Jesus Christus.

Eine gute Nachricht für alle Anfänger vor dem „ersten Mal“: Auch in eurem Leben gibt es nicht den einen, einzigen richtigen Anfang. Es gibt nicht den einen, einzigen richtigen Weg. Es gibt viele Möglichkeiten anzufangen und viele Wege, die zum Ziel führen. Markus hat es vorgemacht. Er macht einen Anfang, nicht den Anfang und schon gar nicht den einen Anfang. Das ist, meine ich, eine erste wichtige Beobachtung.

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Die zweite Beobachtung ist: Markus machteinen Anfang. Er bleibt nicht starr vor Angst vor dem weißen Blatt sitzen. Er macht einen Anfang, weil er weiß, dass es noch andere geben könnte. Dass er vielleicht später noch einen besseren Anfang findet. Dass er immer wieder neu anfangen kann.

Das ist noch eine gute Nachricht für alle, die etwas Neues anfangen: Kein Anfang ist vergebens und kein Weg ist unumkehrbar falsch. Ihr könnt euch auf die manchmal verschlungenen und unsicheren Wege des Lebens einzulassen, weil immer wieder neue Anfänge möglich sind. Macht einen Anfang!

Das ist übrigens auch eine gute Nachricht für alle, die Ihre Kinder bei den Anfängen und „ersten Malen“ begleiten: Sie können sie vertrauensvoll loszulassen, wenn es an der Zeit ist. Um so in neuer und anderer Weise für Ihre Kinder da zu sein. Machen Sie einen Anfang, damit ihre Kinder Anfänge machen können!

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Es gibt noch eine dritte Beobachtung am Text von Markus 1,1: Wir wissen ja gar nicht, ob der Anfang, der jetzt im Markusevangelium steht, der Anfang ist, der am Anfang dort stand. Viel wahrscheinlicher ist, dass Markus während des Schreibens viele verschiedene Anfänge ausprobiert hat. Der Anfang, der jetzt im Markusevangelium steht, ist höchstwahrscheinlich der Anfang, den Markus ganz zum Schluss an den Anfang gesetzt hat. – Es ist der Anfang, der zum Schluss passt. Das macht schon Sinn: Den richtigenAnfang kann man ja erst kennen, wenn man den Schluss kennt, und weiß, wie es ausgeht.

Hier wird es für uns jetzt schwierig. Wir kennen unseren Schluss noch nicht. Wir wissen nicht, wohin uns die Wege führen, die wir heute beginnen. Wir wissen nicht, welche Höhen und Tiefen sie bereithalten. Wir wissen nicht zu welchen Zielen sie letztendlich führen. – Das Gute ist: Das macht nichts! Denn wir haben ja Markus mit seinem Evangelium. Am Theodor-Fliedner-Gymnasium gehen wir – als evangelische Schule – davon aus, dass der Schluss des Evangeliums für unsere Anfänge entscheidend ist. Markus macht in seinem Evangelium ein großes Geheimnis um Jesus Christus. So ziemlich alle bleiben im Ungewissen über diesen Menschen und seine Mission. Erst ganz am Schluss, 16 Verse vor dem Ende, wird das Rätsel gelöst. Nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist, sagt ein römischer Hauptmann:

Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.

(Markus 15,39)

Hier erst wird nachvollziehbar, wie Markus zu seinem Anfang gekommen ist: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.Dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, kann nur der wissen, der das Ende kennt.

Auch das ist eine gute Nachricht für alle Anfängerinnen und Anfänger. Ja, es ist die beste Nachricht überhaupt. Es ist das Evangelium! Ich habe es an eurem ersten Schultag gesagt, in der Andacht über das TFG als Achterbahn, und ich sage es heute im Abitur-Gottesdienst: Gott ist an deiner Seite. Denn Jesus ist die Gegenwart Gottes in Person. Wenn du weggehst, ist ER da. Wenn du heimkehrst, ist ER da. ER ist da, wenn du dein Glück in die Welt hinausschreien könntest. ER ist da, wenn du im Meer der Traurigkeit zu ertrinken drohst. In allen Anfängen deines Lebens ist ER da. ER ist da bei jedem „ersten Mal“. Wenn du ans Ziel kommst, ist ER da. ER ist der Weg und das Ziel.

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Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

es ist an der Zeit über euer „erstes Mal“ zu reden. Das erste Mal, dass ihr euer Abitur bestanden habt und die Schule verlasst. Ich mache es kurz: Macht einenAnfang, aber machteinen Anfang, und vertraut auf das Evangelium!

Für die Achterbahn des Lebens möge Gott die unstillbare Sehnsucht ausgießen in eure Herzen, möge Gott euch den Mut zum Träumen geben und die Kraft jeden Tag neu den Aufbruch zu wagen, möge Gott euch in Christus voranziehen und zugleich euer Schutz sein, möge er euch ein Leben in Fülle schenken, so dass ihr schon am Anfang das Lied seiner Erlösung singen könnt.

Macht’s gut!

 


1. Die Abiturientinnen haben sich bei ihrem Rückblick auf die Schulzeit am Bild einer Achterbahnfahrt orientiert, das in der Andacht zu ihrer Einschulung vor achte Jahren eine Rolle gespielt hat. Als Erinnerung an den Abiturgottesdienst bekommen die Abiturientinnen und Abiturienten einen Fahrchip mit dem Aufdruck „Das Leben ist wie eine Achterbahn und Du entscheidest, ob Du schreist oder die Fahrt genießt“.