Predigt am 16.10.2022 in der Johanneskirche Düsseldorf

Seht sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt,
nicht als Unweise, sondern als Weise,
und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse.
Darum werdet nicht unverständig,
sondern versteht, was der Wille des Herrn ist.

Und sauft euch nicht voll Wein,
woraus ein unordentliches Wesen folgt,
sondern lasst euch vom Geist erfüllen.
Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen
und geistlichen Liedern,
singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen
und sagt Dank Gott, dem Vater,
allezeit für alles,
im Namen unseres Herrn Jesus Christus.

(Epheser 5,15–20)

Wenn ich einen Gottesdienst übernehme, dann schaue ich – egal wie weit der Termin noch in der Zukunft liegt – immer nach, welcher Predigttext für den Sonntag vorgeschlagen ist. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich das für diesen Predigt gemacht habe. An einem Satz bin ich sofort hängen geblieben. Er beschäftigt mich bis heute:

Kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse. (Eph 5,16)

Ja, es sind böse Tage. Oder besser böse Wochen und Monate. Die Zeit der Pandemie, die uns unser Leben in der Familie, im Beruf, in der Gemeinde, ja im Ganzen auf den Kopf gestellt hat. Die vielen Toten. Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal erleben würde, was sonst nur in Katastrophenfilmen geschieht… Der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein völkerrechtswidriger Angriff auf ein souveränes Land. Brutale Gewalt ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Leid, Tod und Zerstörung. Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe. In Europa, gerade mal 1500 km entfernt… Die Energiekrise, die Wirtschaftskrise, die Inflation. Die Angst vor dem Winter. Davor nicht genug Strom und Gas zu haben. Die ständig steigenden Preise für das tägliche Brot nicht bezahlen zu können… Der Tod von Mahsa Amini und die Proteste im Iran. Ein Regime, das mit aller Härte gegen die Studierenden auf den Straßen vorgeht. Die Zahl der Toten, die steigt… Ja, es sind böse Tage.

Kauft die Zeit aus (Eph 5,16a), sagt uns der Predigttext. Was soll das heißen? – Carpe diem? Esst, trinkt, morgen sind wir tot? Die Zeit „auszukaufen“ würde dann bedeuten, gerade in bösen Tagen die Zeit zu genießen, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. Auch wenn es danach klingt, passt das zu unserem Predigttext nicht. Da steht im griechischen Text nicht chronos, sondern kairos. Das heißt: Es geht um die gute, die erfüllt, die verheißungsvolle Zeit, die ausgekauft werden soll. Das Wort „auskaufen“ hat auch eine interessante Geschichte. Es stand ursprünglich für das Freikaufen eines Sklaven auf dem Sklavenmarkt. Loskaufen, freikaufen, das ist es, was mit auskaufen gemeint ist. Du bist frei! Eine neue Zeit beginnt.[1] Was wäre, wenn der Predigttext auch an ein „Freikaufen“ der Zeit denkt: Kauft die gute Zeit frei, gerade in bösen Tagen! – Dieser Spur möchte ich folgen.

Seht sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise.(Eph 5,15)

Wir sollen sorgfältig (im Griechischen steht hier akribos – akribisch) darauf schauen, wie wir unser Leben führen. Weise sollen wir sein und das gerade in bösen Tagen und in Krisenzeiten. Wie kann das gehen? Vielleicht zunächst einmal: Den Druck rausnehmen, unterbrechen, sich Zeit nehmen. Die Böse Zeit treibt uns doch ständig vor sich her. Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Jedenfalls scheint das so und fühlt sich so an. Wir brauchen Momente des Innehaltens und der Unterbrechung, damit die Zeit frei wird. Damit aus böser Zeit gute Zeit werden. Dann können wir in Ruhe sorgfältig und genau hinsehen. Und anfangen zu unterscheiden: Was ist wichtig? Und was sieht zwar wichtig aus und fühlt sich wichtig an, ist es bei sorgfältiger Betrachtung aber vielleicht gar nicht. – Was ist jetzt wirklich wichtig? In den schlimmsten Zeiten der Corona-Pandemie, als es in Krankenhäusern und Pflegeheimen Besuchsverbote gab, Isolation für Infizierte und Ausgangssperren für alle, da haben wir auf schmerzhafte Weise einiges gelernt. Seinem Kind die Windeln zu wechseln oder den Kopf zu halten, wenn es sich übergeben muss; die vergessliche Nachbarin im Rollstuhl durch den Park zu schieben, am Bett eines Sterbenden zu sitzen, das alles sind keine verlorenen, sondern gute und erfüllte Zeiten. So lässt sich die gute Zeit freikaufen in bösen Tagen.

Versteht, was der Wille des Herrn ist. (Eph 5,17b)

Die Lesungen des heutigen Sonntags haben uns schon auf diese Spur gesetzt. Da haben wir im fünften Buch Mose gehört: Das Gebot, das ich dir heute gebiete ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tust. (Deut 30,11.14) Gottes Weisung, seine Worte und Gebote, sind nicht fern und theoretisch. Sondern ganz nah und ganz praktisch. Oder im Evangelium heute. Da kommt einer zu Jesus und fragt: Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Ich stelle mir vor, dass er auch hätte fragen können: Was soll ich tun, damit ich die gute Zeit freikaufe, denn es sind böse Tage? Und Jesus spricht mit ihm über die Gebote und auch darüber, dass er sich entscheiden muss: „Eines fehlt dir“, sagt Jesus zu ihm. „Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ (Mk 10,21) Um die gute Zeit freizukaufen, braucht es Unterbrechung, genaues Hinsehen und sorgfältige Unterscheidung zwischen dem, was unwichtig und dem was wichtig ist. Und dann braucht es eine Entscheidung. Das ist nicht leicht. Für die Jünger, die hören, was Jesus zu dem Mann sagt, ist das geradezu unmöglich. „Bei den Menschen ist’s vielleicht unmöglich“, sagt Jesus ihnen, „aber nicht bei Gott.“ (Mk 10,27) Jesus macht ihnen Mut: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. (2Tim 1,7). Auf den Geist Gottes kommt der Predigttext auch zu sprechen:

Sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. (Eph 5,18)

Es ist nicht ganz klar, worauf die Mahnung im Blick auf das „Vollsaufen mit Wein“ ursprünglich abzielte. Es könnte um Misstände bei der Feier des Abendmahls gehen, von denen Paulus im ersten Korintherbrief (vgl. 1Kor 11,21f) schreibt. Oder um kultische Orgien, die zu Ehren des griechischen Gottes Dionysos gefeiert wurden. Mich haben die Worte an den Film „Der Rausch“ erinnert. Drei Gymnasiallehrer in den Midlife-Crisis hören von einer Theorie, nach der der Mensch 0,5 Promille Alkohol im Blut braucht, um sein volles Potenzial zu entfalten und das Beste aus seinem Leben und seiner Zeit zu machen. Sie beschließen das experimentell zu überprüfen und sorgen dafür, dass sie ständig einen Blutalkoholpegel von 0,5 Promille haben. Zunächst geht das gut, sie werden lockerer, geben besseren Unterricht und können ihre Beziehungsprobleme lösen. Dann aber erhöhen sie ihren Blutalkoholpegel auf beständige 1,0 Promille und das Experiment läuft völlig aus dem Ruder. Mehr verrate ich hier nicht, vielleicht möchte Sie den Film selbst noch ansehen. Sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt. Den Herausforderungen böser Tage und krisenhafter Zeiten mit Rausch zu begegnen, ist nicht zielführend. Im Rausch die bösen Tage zu vergessen, nicht denken und nicht entscheiden zu müssen, ist verführerisch. Doch der Effekt hält nicht lange an. Den Rausch auf Dauer zu stellen, ist definitiv zerstörerisch. Der Predigttext hat Recht, dass so die gute Zeit nicht freigekauft wird. Er setzt dagegen:

Lasst euch vom Geist erfüllen.
Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern,
singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen. (Eph 5,18b–19)

Singen, loben, danken. – Gerade in bösen Tagen kann das heilsam sein. Als die Corona-Pandemie auf ihrem Höhepunkt war, ist mir das besonders aufgefallen. Wir konnten im Gottesdienst und in den Andachten nicht singen. Zeitweise könnten wir gar nicht gemeinsam Gottesdienst feiern. Das hat mir ungemein gefehlt. Ich habe damals alle Gelegenheiten genutzt, um wenigstens für mich zu singen. Bei Online-Andachten und -Gottesdiensten vor dem Computer. Im Auto zu einer CD mit Chorälen. Aber auch einfach so zu Hause. Das kam bei meiner Familie allerdings nicht so gut an: „Papa, bitte NICHT singen!“ Das mag an meinen stimmlichen Fähigkeiten liegen (von denen ich eigentlich recht überzeugt bin), oder an der Auswahl der Lieder. – Mir drängten sich nämlich beinahe immer Choräle auf. In Chorälen haben Angst, Not und Klage ihren Platz. Aber genauso Glaube, Mut und Zuversicht. In ihnen ist Dank und Bitte, Lachen und Weinen, Freude und Leid. Manchmal sind es gar Protestlieder, die trotzig Gottes Barmherzigkeit besingen inmitten der Unbarmherzigkeit der Welt. Vielleicht hat der Predigttext das im Sinn, wenn er uns auffordert, zu singen, zu loben und zu danken. Gemeinsam im Gottesdienst. Oder jeder und jede ganz für sich. Laut und aus voller Kehle. Oder lautlos im Herzen. Mit unseren Bitten und unserem Dank. Als Ausdruck von Angst und Not. Trotzig als Protest. In Glauben und Zuversicht. Als Quelle für Kraft, Liebe und Besonnenheit.

Es sind böse Tage, liebe Schwestern und Brüder. Darum lasst uns die gute Zeit freikaufen. Lasst uns innehalten. Lassen wir uns unterbrechen. Lasst uns sorgfältig schauen, was jetzt wichtig ist. Lasst uns weise Entscheidungen treffen nach dem Willen des Herrn. Lasst uns Gottesdienst feiern, singen und loben.

Lasst uns Gott Dank sagen, dem Vater, allezeit für alles,
im Namen unseres Herrn Jesus Christus. (Eph 5,20)

 


[1] Den Gedanken zum Freikaufen der Zeit und einige Formulierungen verdanke ich einer Predigt von Prof. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh (https://www.ekiba.de/infothek/landeskirche-strukturen/geschichtliches-zur-landeskirche/landesbischof-i-r-jochen-cornelius-bundschuh/predigten-2013-2015/detail/nachricht/id/6616-gottes-zeit-ist-die-allerbeste-zeit/?cb-id=33061 Abruf: 15.10.2022).