Predigt im Schulgottesdienst zum Reformationstag am Amos-Comenius-Gymnasium
Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.
Hans-Dieter Hüsch
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.
Mit diesen Worten hat Hans-Dieter Hüsch den 126. Psalm nachgedichtet, den wir vorhin gesprochen haben. Mit diesen Worten hat die Evangelischen Kirche im Rheinland 2017 das 500. Reformationsjubiläum gefeiert. In diesen Tagen, mit Corona, Ukraine-Krieg und Energiekrise kommen die Wort vielleicht irritierend leicht daher: Vergnügt, erlöst, befreit… Das fühlt sich in diesem Jahr überhaupt nicht so an!
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Dennoch kommt in diesen Worten etwas zum Ausdruck, was für den evangelischen Glauben von zentraler Bedeutung ist. Es steckt in den ersten beiden Worten: Ich bin … vergnügt, erlöst, befreit. – Ich bin. Das liest sich so leicht. Es sagt sich aber umso schwerer. Jedenfalls ist das meine Beobachtung im Unterricht und überhaupt. Das Ich-sagen kommt ziemlich selten vor. Ihr redet lieber von „man“. Vor allem dann, wenn es um persönliche Dinge geht: Ich frage zum Beispiel die Q2 kurz vor dem Abitur: Wenn Du Dir vorstellst nach dem Abitur zu Hause auszuziehen und ein ganzes Stück von zu Hause weg zu wohnen, was wirst Du vermissen? Und die Antwort lautet: Man vermisst dann seine Eltern und seine Schwestern, auch wenn die oft nerven. Man vermisst dann aber, dass immer jemand da, wenn es einem mal schlecht geht.
Man statt Ich. Das kann man machen, aber es kostet etwas: Ich rede zwar von mir, aber es bleibt eine deutliche Distanz zwischen den Gedanken und Gefühlen und meiner eigenen Person. Das Ich, meine Identität und Individualität, das, was mich als Menschen und das Menschsein ausmacht, verschwindet dabei fast völlig. Und meine Aussage verliert deutlich an Intensität. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: Was, wenn Martin Luther 1521 vor dem Reichstag in Worms, als er vor dem Kaiser seine 95 Thesen widerrufen sollte, statt „Ich stehe hier und kann nicht anders!“ gesagt hätte: „Mansteht hier (halt) und kann nicht anders.“ Was, wenn Martin Luther King 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington D.C. zu den 250.000 Demonstranten gesagt hätte „One has a dream.“ statt „I have a dream!“ Der Unterschied ist überdeutlich. Das „man“ ist schwach. Das „ich“ ist um so vieles stärker: „Ich stehe hier und kann nicht anders!“ – „I have a dream!“
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Das liegt daran, dass das Ich aus der schützenden uniformen Menge des Man heraustritt. Es exponiert sich, ergreift die Initiative, übernimmt Verantwortung. Es macht sich dabei angreifbar und verletzbar, klar, doch nur durch das Ich wird der Mensch mutig und stark. Das Ich gibt dem Menschen Würde und Wert. Theologisch betrachtet rückt das Ich den Menschen in die Nähe Gottes. Denn der Name Gottes lautet schlicht: „Ich bin“ (vgl. Ex 3,14). Als Mensch das Ebenbild Gottes zu sein, heißt deshalb Ich zu sein und Ich zu sagen: Ich bin und darf vor Gott sein, so wie ich bin. Mit meinen Hoffnungen und Träumen, Möglichkeiten und Grenzen, mit meinem Glauben und mit meinem Zweifel. Ich bin von Gott gemacht und gewollt, gesucht und geliebt. Von Gott angeredet, werde ich zu seinem Du und damit gleichzeitig selber ganz und gar Ich. Wenn ich Gott antworte, dann werden für mich alle Menschen – und zwar ausnahmslos alle – zum Du, weil sie Mitgeliebte Gottes sind. Wer ich sagt, bringt damit die lebendige Beziehung zum Ausdruck, die zwischen Gott und Mensch besteht und die der Ursprung des jüdisch-christlichen Glaubens ist. Deshalb war es Martin Luther so wichtig, dass diese Beziehung zwischen Gott und Mensch unabhängig von Papst und Kirche besteht und keiner menschlichen Vermittlung bedarf. Gott und Menschen gegenüber Ich zu sagen und Ich zu sein macht frei von dem, was man so tut, was man so sagt oder man so glaubt. Gott und Menschen gegenüber Ich zu sagen und Ich zu sein macht aber nicht nur frei, sondern legt uns gleichzeitig fest: Denn unser Ich bindet uns an Gott und unser Ich verlangt Verantwortung für unsere Mitmenschen.
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Ich bin vergnügt, erlöst, befreit… ist durch das „Ich bin“ ein wirklich gutes Motto für den Reformationstag. Gerade in Zeiten, die sich wenig vergnügt, erlöst, befreit anfühlen. Wenn Ihr mögt, könnt Ihr das ja in dieser Woche mal ausprobieren: Ganz bewusst auf das „man“ verzichten und stattdessen aus tiefstem Herzen „ICH“ sagen. Und zwar egal, was in dieser Woche passiert: ICH freue mich, zum Beispiel, wenn es gut läuft, oder: ICH bin erleichtert. Vielleicht aber auch: ICH bin unsicher, oder gar: ICH habe Angst. Und dann hoffentlich auch: ICH bin behütet. Und: ICH bin geborgen. Oder eben, mit den Worten von Hans-Dieter Hüsch: ICH bin vergnügt, erlöst, befreit. GOTT nahm in seine Hände meine Zeit, mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen, mein Triumphieren und Verzagen, das Elend und die Zärtlichkeit.
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