Predigt in der Frühschicht am Theodor-Fliedner-Gymnasium vom 18.03.2016

„Wer sich fragt, wie es 1930 zu den Wahlergebnissen der NSDAP kommen konnte, der braucht sich nur heute in Deutschland umzuschauen.“ – Dieser und ähnliche Kommentare waren nach dem Bekanntwerden der Landtagswahlergebnisse vom letzten Wochenende auf Facebook zu lesen. Einer hatte sogar die Grafik der Wahlergebnisse der Reichtagswahl direkt unter die Grafik der Landtagswahl in Sachens-Anhalt gestellt. Die beiden Grafiken ähneln sich in unheimlicher Weise (wobei die AfD mit 24,2% die NSDAP mit 18,3% der Stimmen hinter sich lässt).

Natürlich ist die AfD nicht die NSDAP und 2016 ist auch nicht 1930. Aber die Frage, die mich – mit Blick auf die Generation meiner Großeltern und Urgroßeltern – schon lange beschäftigt, bekommt plötzlich Aktualität: Wie konnte es sein, dass eine rechtsradikale, faschistische und rassistische Partei in großem Maße Zustimmung erfährt und über demokratische Wahlen politischen Einfluss gewinnt?

Ich glaube, der Nationalsozialismus und seine Ideologie waren wie ein starker Wind, der im Deutschland der 1930iger Jahres wehte. Viele haben sich mitreißen lassen, die meisten aber wurden von diesem Wind wahrscheinlich ganz langsam aber sicher verbogen. So wie Bäume, die tagtäglich im Wind stehen, langsam aber sicher vom Wind verbogen werden, sich seiner Richtung anpassen.

Hier sehe ich tatsächlich eine starke Parallele zu heute. Die rassistische Einstellung gegenüber Menschen mit einer anderen Nationalität, mit einer fremden kulturellen Prägung, mit einer anderen Religion im Allgemeinen und den Flüchtlingen im Speziellen weht immer stärker durch unser Land. Sie reicht von den „ja, aber“-Argumentationen über die „man wird ja wohl noch sagen dürfen“-Parolen bis hin zu unverhohlenem Rassismus und lupenreiner Nazi-Propaganda.

„Die durchaus berechtigten Ängste innerhalb der Bevölkerung, beispielsweise die Angst vor einem sozialen Abstieg oder eigenen Arbeitslosigkeit, (…) haben nichts mit Flüchtlingen oder deren Sammelunterkünften zu tun. Sie werden erst durch rassistische Argumentationsmuster mit der Fluchtthematik verbunden.“[1] Behauptungen vom Anstieg der Kriminalität um Sammelunterkünfte von Flüchtlingen herum sind statistisch nicht nachzuweisen und dienen einzig dazu die Anwohnerinnen und Anwohner gegenüber Flüchtlingen aufzuhetzen.

Dieser rassistische Wind reißt erschreckend viele Menschen mit und er reißt sie dazu hin, Parteien wie die AfD zu wählen. Vor allem aber sorgt dieser Wind dafür, dass viele Menschen ganz langsam, fast unmerklich, verbogen werden. Wie die Bäume langsam aber sicher verbogen werden, wenn sie lange genug im Wind stehen. Das Holz wird krumm, der Baum steht nicht mehr aufrecht.

Krumm und schief ist auch der Turm[2] der evangelischen Kirche „St. Georg“ in Hattingen, der auf dem Foto zu sehen ist. Kurz nach seinem Bau begann sich der Turm zu neigen. Er wurde immer schiefer und schiefer. Das Bemerkenswerte daran ist aber, dass er sich nicht in der Windrichtung neigte, wie die Bäume das tun, sondern gerade andersherum, gegen den Wind. Der krumme Kirchturm von St. Georg neigt sich nach Südwesten. Er steht steht schief – gegen den Wind.

Dafür gibt es eine physikalische Erklärung: Als das Holz für das Turmdach gefällt und verbaut wurde, war es noch feucht. Feuchtes Holz aber verzieht sich immer zu der Seite, die am schnellsten trocknet. Weil der Wind das Holz schneller trockenen lässt, neigt sich der Turm in die Richtung, aus der der Wind kommt.[3] Der Wind hat diesen Kirchturm tatsächlich krumm werden lassen. Aber nicht in Richtung des Windes, sondern dagegen.

Der Turm dieser Kirche ist für mich ein starkes Bild für den christlichen Glauben: Wenn der Wind rechter Propaganda und menschenverachtenden Rassismus‘ durch unser Land weht, hält er nicht nur Stand, sondern neigt sich vielmehr in die andere Richtung und stemmt sich mit aller Kraft dem Wind entgegen.

Richtet euch nicht einfach nach dem herrschenden Wind, sondern leistet Widerstand, wenn es böse wird!

(nach Röm 12,2 und Eph 6,13)

Christinnen und Christen machen Ernst mit dieser biblischen Botschaft, indem sie sich vom Wind nicht verbiegen lassen, sondern Widerstand leisten und solidarisch auf der Seite der Bedrängten stehen. Indem sie mit allen in ihrer Macht stehenden Mittel helfen, machen Christinnen und Christen deutlich, dass da, wo Menschen in Not sind, Barmherzigkeit und Nächstenliebe alternativlos sind. Deshalb gibt es in der Flüchtlingsfrage keine, aber auch gar keine Alternative für Deutschland!

Das ist ein gewaltiger Unterschied zwischen 1930 und 2016. Damals haben sich viele evangelische Kirchtürme dem nationalsozialistischen Wind angepasst und sind von ihm verbogen worden. Neben der Mehrheit der sogenannten Deutschen Christen gab es nur sehr wenige, die Widerstand geleistet haben. Das ist heute – Gott sei Dank – anders. Christinnen und Christen engagieren sich in ihren Gemeinden für die Flüchtlinge in ihrem Stadtteil. Sie gehen auf die Straße, wenn Pegida, Dügida oder die AfD ihre fremdenfeindlichen Ideen verbreiten. Unsere Kirchtürme sind krumm und schief, denn sie neigen sich gegen den Wind. Wir, Christinnen und Christen aber, können nur so aufrecht gehen.

 Krummes Holz – aufrechter Gang

(Helmut Gollwitzer)

 


 

[1] Was tun, damit’s nicht brennt? Leitfaden zur Vermeidung von rassistisch aufgeladenen Konflikten im Umfeld von Sammelunterkünften für Flüchtlinge, hg.v. der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus, der Evangelischen Akademie zu Berlin und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin, http://www.mbr-berlin.de/wp-content/uploads/2015/07/wastun_2015.pdf (Abruf: 17.03.2016).

[2] Die Predigtidee mit dem schiefen Kirchturm verdanke ich einem „Wort zum Sonntag“ von Margrit Balscheit (vgl. dies.: Eine Taube aussenden. Worte zum Sonntag, Basel 1989, 66–70).

[3] Vgl. http://www.derwesten.de/staedte/hattingen/Wotan-Rache-und-Regen-id491881.html (Abruf: 17.03.2016).