Kollegiumsandacht zum Schuljahresbeginn

Wer hat heute einen Regenschirm dabei? – Niemand? Gut, das ist ja jetzt auch nicht mehr nötig, die Ferien sind ja vorbei. In den letzten sechs Wochen war das allerdings zum größten Teil anders. Da brauchte man definitiv einen Regenschirm. Mindestens war es besser einen dabeizuhaben. Bei uns war es in der ersten Urlaubswoche jedenfalls so, dass vor dem Schritt nach draußen erst mal der Blick in den Himmel stand. Um abzuschätzen, was da auf uns zukommt. Um die richtige Kleidung und Ausrüstung zu wählen. Um nicht am Ende schutzlos im Regen zu stehen. Aber das Schöne ist, dass wir uns in diesen Sommerferien – mit dem prüfenden Blick in den Himmel und einem Regenschirm für alle Fälle – in prominenter Gesellschaft befanden. Unter dem Nachlass von Friedrich Nietzsche befindet sich ein Schriftstück mit nur einem Satz:

„Ich habe meinen Regenschirm vergessen.“

(Friedrich Nietzsche)

Wer es nachschlagen möchte: Es ist die Ziffer 12/175 in der großen Nietzsche-Ausgabe von Colli und Montinari.[1] Der Satz steht dort völlig ohne Zusammenhang, dafür aber in Anführungszeichen. Alle philosophischen Deutungsversuche blieben bisher ohne nennenswerten Erfolg. Alle bis auf den von Thomas Hürlimann in seinem kleinen Büchlein ‚Nietzsches Regenschirm’. Darin ist zu lesen, dass Friedrich Nietzsche einen roten Regenschirm hatte. Außerdem wird erläutert, weshalb Wanderer in jener Zeit stets den Schirm mitnahmen und das Haus nicht verließen, ohne einen Blick nach oben zu werfen, zu den Wolken und zu den Göttern. Ich lese ein Stück daraus vor:

Für uns ist der Schirm, wenn wir ihn überhaupt noch benutzen, ein Sonnen- und Regenschutz. Das war er ursprünglich auch, gewiss, seine wahre Bedeutung jedoch, seine eigentliche Funktion war eine andere. Der Schirm stammt aus der Tiefe der Jahrtausende und aus den Weiten Chinas, Indiens und Ägyptens. An seiner Form erkennen Sie, was er nachahmt: die Palme oder das Dach einer Pagode. Ursprünglich wurde dem Mächtigen, dem König, dem Priester oder Medizinmann ein Fächerdach aus Palmzweigen oder Straußenfedern hinterhergetragen, der ihn als höheres Wesen auszeichnete und über die anderen Menschen erhob. Der Schirm war also in ersten Linie ein Rangabzeichen, und wie eine Krone mit funkelnden Edelsteinen auf den Sternenkranz verwies, verbanden die früheren Schirme das Haupt des Beschirmten mit dem Wipfel- und Vogelreich, mit anderen Worten: Sie waren nicht nur ein Zeichen des Ranges, sie waren ein Zeichen der Transzendenz, der Metaphysik. Im Reich der Seide, in China, fand dieses Zeichen seine endgültige Gestalt. Man übernahm von den Zweigen die Äste oder von den Federn die Kiele, formte aus ihnen ein Skelett und bespannte dieses mit Seide, die dann innen und außen bemalt wurde, oft mit Vogel- und Sternenmotiven, ähnlich dem Strahlenkranz einer Madonna. So wurde aus dem Schirmdach ein mobiles Himmelsgewölbe en miniature, das den, der unter ihm wandelte, zum einen mit einem Heiligenschein versah (Schirme sind Heiligenscheine, sage Georges Bataille), zum anderen vor den Strahlen und Ergüssen des Himmels in Schutz nahm.[2]

Der Schirm ist also ein ‚kleiner Himmel’, der uns vor dem schützt, was vom ‚großen Himmel’ fällt. Kein Wunder, dass wir den möglichst nicht vergessen wollen… – Warum erzähle ich das heute am ersten Tag des neuen Schuljahres? Wo doch ab morgen Sonne und Hitzefrei zu erwarten sind? – Nun ja. Bei aller Frische und bei allem Elan der ersten Tage, bei allem Enthusiasmus und bei aller Zuversicht, sind die meisten von uns doch schon so lange dabei, dass sie wissen, dass es nicht nur Sonnentage geben wird in diesem Schuljahr. Der eine oder die andere blickt am Beginn des Schuljahres vielleicht doch einmal prüfend in den Himmel: Wie wird es werden das neue Schuljahr? Wie viel Sonne wird es geben, die uns wärmt und ermutigt? Werden wir den Wind im Rücken haben? Oder wird er uns ins Gesicht blasen? Werden wir vom Unwetter kalt erwischt? Oder können wir im warmen Sommerregen tanzen? – Wir wissen es nicht. Die Wettervorhersage ist nur vage und reicht nicht weit ins Schuljahr hinein. Sie ist nur bedingt vertrauenswürdig. Wir wissen es einfach nicht.

Auch Friedrich Nietzsche wusste es nicht. Deshalb ist er nie ohne seinen roten Schirm aus dem Haus gegangen. Aber obwohl er seinen Schirm immer dabeihatte, war Nietzsche gänzlich unbeschirmt. Im Christentum sah er eine gefährliche Schwächung aller edlen Eigenschaften des Menschen. Deshalb hob er die fundamentale Teilung des abendländischen Denkens auf: Nicht mehr Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Gott und Mensch. „Damit war Gott tot, die alte Heimat verloren, er aber, der Über- und Nachmensch, musste im Unbegrenzten, im ‚gefährlichen Vielleicht’, weiterexistieren“[3]. Mit seinem roten Schirm, doch gänzlich unbeschirmt. Nietzsches rätselhafte Notiz vom vergessenen Regenschirm bekommt vor diesem Hintergrund eine ganz neue Dimension…

Doch was ist mit uns? Prüfender Blick nach oben, Schirm mitnehmen oder nicht? – Ganz egal. Denn wie Nietzsche trotz seines roten Schirms vollkommen unbeschirmt war, so sind wir, auch wenn wir unsere Schirme vergessen sollten, niemals völlig unbeschirmt.

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt
und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,
der spricht zu dem Herrn:

Meine Zuversicht und meine Burg,
mein Gott, auf den ich hoffe.

(Psalm 91,1f)

Ich wünsche Euch, dass Ihr im neuen Schuljahr diese Erfahrung machen könnt! Deshalb will ich Euch auch den letzten Satz im Buch über Nietzsches Regenschirm nicht vorenthalten:

Vielleicht, ein schönes Vielleicht, sind wir beschirmter als wir ahnen.[4]

Ich sage: Ganz bestimmt!

 


[1] Vgl. Thomas Hürlimann: Nietzsches Regenschirm, 2. Aufl., Frankfurt 2015, 10.

[2] A.a.O., 12f.

[3] A.a.O., 39.

[4] A.a.O., 43.