Sehr geehrter Herr Kaube,
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 08.01.2019 sind Sie unter der Überschrift „Haben wir was in Reli auf?“ hart mit einem Religionsunterricht ins Gericht gegangen, der „zwischen Grundgesetz, Biographiebegleitung und Glückskeksweisheiten angesiedelt“ ist, weil Schule mit einem solchen Religionsunterricht „unterhalb ihrer Möglichkeiten bleibt.“ Religion handelt für Sie „von Nichtoffensichtlichem, Unsichtbarem, von paradoxen und extremen Situationen, beunruhigenden und tröstenden Mitteilungen sowie von der Unvollständigkeit der Welt und von nichtverfügbaren Tatbeständen des Lebens“. Hier kann ich Ihnen nur voll und ganz zustimmen. Durch einen Religionsunterricht, der nicht genau das zum Inhalt hat, „verarmt die Kenntnis einer Wirklichkeit und eines Repertoires von Antworten auf letzte Fragen, die sie aufwirft“. Gleichzeitig muss ich Ihnen widersprechen, wenn Sie die Biographie begleitende Dimension des Religionsunterrichts einseitig zugunsten einer rein religionskundlichen Dimension kritisieren. Es ist schlicht unmöglich über die Wirklichkeit Gottes, über die Wirklichkeit des Gottesreiches, über die Wirklichkeit der Auferstehung zu reden. Man kann nur von ihnen reden. Ein solches Reden von der Wirklichkeit der „Antworten auf letzte Fragen“ bedeutet aber ein Reden, das die eigenen biographischen Erfahrungen mit den „beunruhigenden und tröstenden Mitteilungen“ biblischer Texte und theologischer Gedanken ins Gespräch bringt und eben dadurch – wenn sie nicht völlig spurlos an den Schülerinnen und Schülern vorbeigeht – eine Biographie begleitende Dimension aufweist. Ziel ist dabei nicht „der Glaube an Religion“, aber auch nicht allein „das Wissen über sie“, sondern eine von der Sache her begründete Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den „nichtverfügbaren Tatbeständen des Lebens“.

Mit den 18 Schülerinnen und Schülern meines Leitungskurses Ev. Religion haben ich das in den vergangenen zwei Jahren erlebt. Arthur hat die Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft motiviert, Religion neben Physik als Leitungskurs zu wählen. Wie die Wirklichkeit zu verstehen ist, auf die sich Glaube und Wissen beziehen, ist letztlich eine Frage nach dem eigenen Weltbild, die persönliche Antworten erfordert. Malva und Zilan haben sich als Muslima im Leistungskurs Ev. Religion bewusst der Auseinandersetzung mit der christlichen Religion und Theologie ausgesetzt. Sie haben damit in besonderer Weise einen Blick von außen eingebracht und gleichzeitig ihre eigene religiöse Biographie aus einer neuen Perspektive in den Blick genommen. Rava hat uns durch ihre Glaubenskraft immer wieder herausgefordert, die Konsequenzen theologischer Gedanken für die Glaubenspraxis zu bedenken und persönlich Stellung zu beziehen. Catherine und Hanna haben immer wieder die religionskritischen Positionen stark gemacht und damit den notwendigen Raum dafür geöffnet, auch nochmal das Gegenteil anzunehmen und der Skepsis ihr Recht zu geben. Alina, Jule und Tizia haben ein besonderes Augenmerk auf die pädagogischen und psychologischen Querverbindungen unserer Themen gelegt und so an den engen Zusammenhang von Glaubens- und Lebensfragen erinnert. Svea hat in ihrer Facharbeit die Organspende als ethisches und theologisches Problem angesehen und gezeigt, wie eng beides zusammenhängt. Rosa hat uns zum Theaterbesuch motiviert und so die kulturelle Dimension der Religion ins Bewusstsein gebracht. Melanie hat uns im Kolosseum in Rom ein Referat über die Anfänge des Christentums gehalten, über das eine Mitschülerin im Rückblick schrieb, dass diese historische Betrachtung für ihr Nachdenken über die Gestalt von Kirche heute eine nachhaltige Wirkung hat. Brittas theologische Argumentationen haben jetzt schon das Niveau theologischer Proseminare und zeigen gleichzeitig ihre ganz persönliche Auseinandersetzung mit den Fragen und Problemen. Von akademischen Glasperlenspielen keine Spur. Isabelle, Lena und Sissy haben sich intensiv mit der politischen Dimension des Glaubens auseinandergesetzt, als wir die Ausstellung „Martin Luther King Jr. @ Berlin 1964“ an die Schule geholt haben. Ihr Engagement hat die Besucherinnen und Besucher spüren lassen, dass es um ein Thema geht, dass ihnen persönlich am Herzen liegt. Oscar und Sam wurden von den extremen Dilemma-Situationen besonders herausgefordert. Bei ihnen habe ich in den Diskussionen ethischer Fragestellungen ein besonderes Engagement gespürt, das über eine theoretische Auseinandersetzung deutlich hinausging.

Diese wenigen Beispiele aus den zurückliegenden zwei Unterrichtsjahren zeigen, wie im Engagement meiner Schülerinnen und Schüler das religionskundliche Wissen und die lebenspraktische Erprobung der Anwendung desselben zusammengekommen sind. Wir haben von Dingen geredet, über die man schlechterdings nicht reden kann. Ob das für die eine oder den anderen nicht auch ein Stück des von Ihnen so vehement abgelehnten „Unterrichts als Lebenshilfe“ gewesen ist, kann ich nicht sagen. Wenn es so wäre, würde es mich aber freuen. Mich selber hat der Unterricht durch das Gespräch mit diesen tollen, jungen Menschen jedenfalls immer wieder auch persönlich mit den „beunruhigenden und tröstenden Mitteilungen“ des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Gestalt in Kontakt gebracht. Dafür danke ich meinen Schülerinnen und Schülern von Herzen!

Wenn meine Schülerinnen und Schüler ihr Abitur nicht schon bestanden hätten, würde ich sie Ihnen, sehr geehrter Herr Kaube, gerne für ein paar Unterrichtsstunden ausleihen, damit Sie Ihre Überlegungen zum Religionsunterricht einem Praxis-Check unterziehen können. Denn die haben was in Reli drauf!

Mit freundlichen Grüßen

Sascha Flüchter

 


* Dieser Text ist als Beitrag für das ABI-Buch des Abiturjahrgangs 2019 am Theodor-Fliedner-Gymnasium in Düsseldorf-Kaiserswerth entstanden und dort zuerst veröffentlicht worden.