Anker lichten, Leinen los!
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Festgemeinde, das hat das Vorbereitungsteam als Titel für den diesjährigen Abiturgottesdienst ausgesucht. Und Anita hat das Titelbild dazu gestaltet. Schaut es Euch noch einmal an! – Und jetzt, schließt für einen Moment die Augen … und stellt Euch das Schiff in Kaiserswerth am Rheinnufer vor. Könnt Ihr es sehen? – Fest vertäut mit dicken Seilen, liegt es im Strom. Das Schiff ist bereits beladen und die Mannschaft ist an Bord. Alle sind an Deck, stehen an der Reling, den Blick dem Ufer zugewandt, wo sich eine große Menge versammelt hat, um die in See stechenden zu verabschieden. Eltern und Geschwister sind gekommen, Verwandte und Freunde, Lehrerinnen und Lehrer. Die Strömung des Rheins zieht an den Leinen, die das Schiff noch am Ufer halten, als warte die Strömung nur darauf das Schiff endlich mitzunehmen auf große Fahrt. Doch die Leinen sind stark, die Strömung wird sie nicht zerreißen, sie muss geduldig warten, bis sie losgemacht werden und das Schiff in See sticht.
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Die Mannschaft kennt den Rhein und seine Strömung. Acht Jahre hat sie sich vorbereitet und trainiert: In der Schule am Strom. Jetzt sind die Prüfungen bestanden und sie dürfen alleine los, wenn der Schulleiter die Patente für die große Fahrt verliehen hat. Aufbruchsstimmung liegt in der Luft, fröhliches Lachen, gespannte Erwartung und auch ein bisschen Wehmut. Das passt zu diesem feierlichen Tag, auf der Schwelle in einen neuen Lebensabschnitt. Wenn die Mannschaft unter sich ist – wie auf den Orientierungstagen kurz vor dem Ende der Schulzeit – dann kommen auch noch andere, höchst ambivalente Gefühle hoch: Eine Zeit ohne Klausuren, Referate, Vokabeln und Formeln. Ohne Stundenpläne und Montage mit ersten Stunden. Eine Zeit eigener Pläne, vieler Möglichkeiten und neuer Ziele. Eine Zeit größerer Selbstständigkeit. Das eigene Leben nach eigenen Regeln. Vielleicht sogar in der eigenen Wohnung, in einer anderen Stadt, oder gar in einem anderen Land. Aber auch eine Zeit ohne das, was die letzten 12 Jahre – also fast immer – euren Alltag bestimmt hat. Was euch über Jahre hinweg jeden Tag mit den Menschen zusammengebracht, die ihr schätzen und mache lieben gelernt habt. Die Mannschaft, ohne die dieses Schiff undenkbar wäre. Was wird aus den Freundschaften und Beziehungen, wenn es heute heißt „Leinen los!“? – Werden sie bestehen, wenn der gemeinsame Alltag und die gemeinsamen Themen wegfallen? – Aufbruch und Neuanfang sind ambivalent.
Das beschäftigt nicht nur die Mannschaft auf dem Schiff, sondern auch diejenigen, die am Ufer stehen und Winken. Wenn wir ganz ehrlich sind, liebe Eltern, dann haben wir seit der Geburt unserer Kinder bereits geahnt, dass wir ihr Leben und ihre Zukunft letztlich nicht in der Hand haben. Wir können nicht machen, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden… und das macht auch schon mal Angst… Darüber müssen wir heute reden, weil eines ist klar, wenn ein Schiff ablegt: Die Seile, die es festhalten, werden am Ufergelöst und nichtan Bord. Das Kommando „Leinen los!“, das kommt vom Schiff. Doch die am Ufer stehen müssen die Leinen lösen und loslassen, damit das Schiff ablegen kann. Das ist keine leichte Aufgabe für die Eltern…
Aber auch euch auf dem Schiff fällt es vielleicht gar nicht ganz so leicht „Leinen los!“ zu rufen. Euch vom Strom des Lebens mitnehmen zu lassen und die eigene Route zu planen. Denn die neue Freiheit und die Vielzahl der möglichen Wege werfen oft erst mal mehr Fragen auf als Antworten sie liefern: Wie lassen sich meine Hoffnungen und Träume erfüllen? Kann ich den Erwartungen gerecht werden – meinen eigenen und denen, die andere an mich stellen? Was ist es eigentlich, was ich machen möchte? Was passt zu mir? Was ist mein Ziel? Fragen die die Mannschaft bewegen kurz bevor es losgeht – den einen mehr, die andere weniger. Das ist ganz normal, ja es ist sogar gut so. Denn selbst erfahrene Seefahrer kennen solche Fragen, weil sie auf dem Strom des Lebens immer wieder auftreten. Sie wissen, dass eine gute Ausbildung wichtig ist, dass es hilft gut zu Planen, dass man auf sich und seine Fähigkeiten vertrauen muss und Unterstützung braucht. Erfahrene Seefahrer wissen aber auch, dass der Strom des Lebens sich nicht hundertprozentig berechnen lässt. Dass es trotz aller Planung anders kommen kann, als gewünscht und als gedacht. Dass man fast nie ans Ziel kommt, ohne zeitweilig die geplante Route zu verlassen. Dass es Stürme geben kann und Nebel. Dass wir unser Leben letztlich nicht selber in der Hand haben auf dem offenen Meer… – Und trotzdem zuversichtlich unterwegs sein können!
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Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ihr seid gut ausgebildet, ihr habt eine Menge an Wissen, an Können und an Kompetenzen entwickelt. Ihr habt Schwächen eingegrenzt und Stärken ausgebaut. Ihr habt Erfahrungen gemacht und gelernt auf eure Fähigkeiten und Talente zu vertrauen. Und ihr habt einen großen Schatz an Liebe und Geborgenheit, Begleitung und Hilfe in euren Eltern, Geschwistern, Großeltern, Verwandten und Freunden. Das alles nehmt ihr mit, wenn wir heute die Leinen los machen und eure Fahrt beginnt. Haltet es gut fest und haltet es in Ehren. – Aber behaltet es nicht alleine für euch!
Die Gaben und Fähigkeiten, die ihr in euch tragt, das Wissen und das Können, das ihr entwickeln konntet und die Hilfe und die Begleitung, die ihr dabei erfahren durftet, habt ihr nicht nur für euch alleine. – Nutzt sie, um etwas zu verändern! Lasst nicht zu, dass die Erde weiter Schaden nimmt. Lasst nicht zu, dass Menschen ertrinken, weil man Gesetze brechen muss, um sie zu retten! Lasst nicht zu, dass Egoismus, Protektionismus und Unmenschlichkeit Alternativen werden zu Solidarität und Nächstenliebe. – Hier gibt es keine Alternativen! Lasst es nicht zu! Nutzt eure Gaben und Fähigkeiten, um etwas zu verändern!
Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Es braucht dazu eine Menge Kraft, Mut und Fantasie… und Hoffnung! Hoffnung, dass sich etwas ändern wird. Hoffnung, dass wir etwas verändern können. Hoffnung, dass nicht umsonst ist, was wir tun.
Hoffnung haben wir als einen sicheren und festen Anker unsrer Seele.
(Hebräer 6,19)
So heißt es im Hebräerbrief. Den Anker der Hoffnung, den können wir Menschen nur in begrenztem Maße selber schmieden. Im Hebräerbrief heißt es daher weiter: Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn Gott ist treu, der sie uns verheißen hat (Hebr 6,19; 10,23). Den Anker der Hoffnung gibt Gott uns mit auf den Weg. Diesen Anker bekommen wir geschenkt. Das deutlich zu machen, ist uns am Theodor-Fliedner-Gymnasium ein wichtiges Anliegen: Im Religionsunterricht und in den Andachten, auf den Tagen religiöser Orientierung und in der Seelsorge versuchen wir auf diesen Anker der Hoffnung hinzuweisen, den Gott uns schenkt. Wir sind überzeugt, dass es einen Unterschied macht, wenn man einen solchen Anker dabeihat. Weil er einen sicheren Halt bietet im Strom des Lebens. Weil der Anker der Hoffnung Sicherheit gibt und Zuversicht gerade da, wo wir erfahren müssen, dass wir unser Leben nicht in unserer Hand haben und es uns zu entgleiten droht. Weil er uns auch dann auf Kurs hält, wenn wir unser Ziel nicht kennen oder es im Nebel aus den Augen verloren haben. Weil der Anker uns spüren lässt, dass wir auf unserer Fahrt nicht alleine sind und niemals tiefer fallen können als in Gottes Hand.
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Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ich bin mit meinen Gedanken noch immer am Ufer des Rheins, wo heute die Leinen losgemacht werden, damit das Schiff auslaufen kann. Wo der Anker gelichtet wird und mit an Bord kommt, damit er da ist, wenn man ihn braucht. – Wenn Schiffe auslaufen, dann gibt es eine alte Tradition. Kurz vor dem Auslaufen wird auf dem Schiff die Glocke angeschlagen. Dreimal drei Schläge. [Schiffsglocke läuten] Die Seeleute wissen, was dieses Glockensignal heißt: Allzeit gute Fahrt – in Gottes Namen. Das wünsche ich euch!
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