Es ist das Jahr 1500 vor Christus. Irgendwo in Moab, östlich des Toten Meeres, findet eine Art Entlassfeier statt. Ganz Israel hat sich versammelt. Nach 40 Jahren der Wüstenwanderung steht das Volk nun vor einem neuen Abschnitt in seiner Geschichte. Das Land, das Gott ihnen versprochen hatte – das Ziel ihrer langen Wanderung – liegt nun vor ihnen. Nur ist es nicht ganz so, wie sie es sich erträumt hatten. Nicht einfach nur hell und weit, voll Milch und Honig, sondern eher undurchsichtig, trüb und voller Unsicherheiten und Gefahren. Denn es ist nicht leer und wartete nur auf seine neuen Bewohnerinnen und Bewohner, sondern es ist bewohnt von Völkern mit unbekannten Sitten, Bräuchen und Religionen.Das Schwierigste aber ist, dass Israel ohne Mose weiterziehen muss. Gott hat ihm verboten den Jordan zu überschreiten. Er darf das gelobte Land nur aus der Ferne sehen. – Israel muss alleine weiter. Deshalb die improvisierte Entlassfeier. Es ist heute ein besonderer Tag.

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Szenenwechsel. Es ist das Jahr 2020 nach Christus. Am Theodor-Fliedner-Gymnasium findet heute eine Entlassfeier statt. Die ganze Jahrgangsstufe 12 hat sich versammelt. Nach 12 Jahren Schule, nach acht Jahren am TFG stehen die Abiturientinnen und Abiturienten nun an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Das Ziel, auf das sie hingearbeitet haben, ist zum Greifen nahe. Gleich werden sie ihre Abiturzeugnisse erhalten und die Schule verlassen. Nur ist es nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt haben. Die Corona-Pandemie hat vieles unmöglich gemacht, wovon man seit der 5. Klasse geträumt hat: Die Motto-Woche, der letzte Schultag mit dem Abi-Gag. Dabei wollten die Abiturientinnen und Abiturienten die letzten Wochen und Tage besonders genießen. Nochmal zusammen sein mit den Leuten aus der Stufe, bevor dann endet, was die letzten 12 Jahre – also fast immer – ihren Alltag bestimmt hat. Was sie über Jahre hinweg jeden Tag mit den Menschen zusammengebracht, die sie schätzen und mache lieben gelernt haben.

Es nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt haben, und das hängt nicht nur mit Corona zusammen. Neuanfänge sind immer ambivalent. Auf den ersten Blick ist das Ende der Schulzeit super: Eine Zeit ohne Klausuren, Referate, Vokabeln und Formeln. Ohne Stundenpläne und Montage mit ersten Stunden. Eine Zeit eigener Pläne, vieler Möglichkeiten und neuer Ziele. Auf den zweiten Blick sieht es schon anders aus. Die neue Freiheit und die Vielzahl der möglichen Wege werfen oft erst mal mehr Fragen auf als Antworten sie liefern: Wie lassen sich meine Hoffnungen und Träume erfüllen? Kann ich den Erwartungen gerecht werden – meinen eigenen und denen, die andere an mich stellen? Was ist es eigentlich, was ich machen möchte? Was passt zu mir? Was ist mein Ziel? In Freude und Aufregung mischen sich Unsicherheit und Sorge.

Auch für die Eltern der Abiturientinnen und Abiturienten ist es ganz anders als sie es sich vorgestellt haben. Sie können heute nicht hier in der Aula dabei sein. Sie können die Entlassfeier nur aus der Ferne sehen. Das ist schwer, denn auch für sie beginnt heute ein neuer Abschnitt des Eltern-Seins. Es setzt sich etwas fort, dass schon mit der Geburt der Kinder begonnen hat. Schon damals, liebe Eltern, haben wir doch geahnt, dass wir das Leben und die Zukunft unserer Kinder letztlich nicht in der Hand haben. Dass wir nicht machen können, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden. Je älter die Kinder werden, desto deutlicher wird, dass wir als Eltern dem Leben ihrer Kinder letztlich nur aus der Ferne zuschauen können. Elternsein, das ist die schönste und die schwierigste Aufgabe zugleich.

Für alle – die Abiturientinnen und Abiturienten und die Eltern – ist heute ein besonderer Tag. Deshalb die in diesem Jahr etwas improvisierte Entlassfeier.

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Szenenwechsel. 1500 vor Christus, irgendwo in Moab. Entlassfeier für das wandernde Gottesvolk. Mose spricht zu Israel:

Ich bin heute hundertzwanzig Jahre alt, ich kann nicht mehr aus- und eingehen.
Dazu hat der HERR zu mir gesagt: Den Jordan hier, sollst du nicht überschreiten!

Der HERR, dein Gott, [aber] wird selber vor dir hergehen.
ER wird dir helfen und dich niemals im Stich lassen.
Hab keine Angst und lass dich von keinem Gegner einschüchtern!

(Deuteronomium 31,1-3a.8)

Der Hundertzwanzigjährige ist realistisch, was seine eigenen Möglichkeiten angeht, Israel auf dem Weg in die Zukunft weiter zu begleiten. Er wird in Moab bleiben und ihren Weg aus der Ferne verfolgen. Mose versucht auch nicht, die Unsicherheiten und Ängste kleinzureden, die an der Schwelle zu diesem neuen Abschnitt in der Geschichte Israels da sind. Das ist ihm wohl bewusst. In seiner Rede zur Entlassfeier verweist Mose schlicht auf das, was bei aller Unklarheit und Ungewissheit im Blick auf Israels Weg in die Zukunft absolut klar und unzweifelhaft gewiss ist: Gott selber wird vor seinem Volk hergehen. Er wird da sein und Israel nie im Stich lassen. Gott hat es versprochen, damals als er aus dem brennenden Dornbusch zu ihm gesprochen hatte. Als Mose ihn nach seinem Namen gefragt hat.

So sollst Du zu den Israeliten sagen:
ICH BIN DA hat mich zu euch gesandt hat.
Das ist mein Name auf ewig.

(Exodus 3,14f)

Mose hatte erlebt, dass das stimmt: Als Israel unter dem Joch der Sklaverei in Ägypten stöhnte und schrie. Als Miriam das Lied von der Rettung anstimmen konnte. In all den Höhen und Tiefen der vierzig Jahre in der Wüste. Israels Gott war immer dagewesen. Sein Name – ICH BIN DA – ist Programm. Wenn etwas absolut klar und unzweifelhaft gewiss ist, dann ist es das!

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Szenenwechsel. Theodor-Fliedner-Gymnasium, 26. Juni 2020.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Eltern,

in diesem Jahr ist so vieles anders. Nicht so, wie wir es uns vorgestellt, wie wir es uns erträumt haben. Für das TFG geht ein Schuljahr zu Ende, das es so nicht annähernd schon einmal gegeben hätte. Wie das kommende Schuljahr sein wird, wissen wir – ehrlich gesagt – nicht wirklich. Für euch geht heute die Schulzeit zu Ende, eine Zeit, die – von den letzten Wochen mal abgesehen – gefüllt war mit spannenden, bereichernden und vielfach schönen Erfahrungen. Für Sie, liebe Eltern, geht die Zeit als Schüler-Eltern zu Ende und es beginnt ein neues Kapitel des Eltern-Seins. Für die Lehrerinnen und Lehrer dieses Abiturjahrgangs geht heute die Zeit zu Ende, in der sie diese tollen Menschen von der 5. Klasse, als die verspielten Kleinen, über die Mittelstufe, durch die Wirrungen der Pubertät, bis heute, als verantwortungsbewusste junge Erwachsene begleitet haben. Weiter als bis hier, kann und soll die Schule, kann das TFG in eurem Leben nicht mitgehen. Wie der alte Mose bleibt eure Schule jenseits des Jordan zurück. Euren Weg in die Zukunft kann sie nur aus der Ferne verfolgen.

Was könnte passender sein, als sich als evangelische Schule, in dieser Situation die Worte des alten Moses zu leihen:

Der HERR, dein Gott, wird selber vor dir hergehen.
ER wird dir helfen und dich niemals im Stich lassen.
Hab keine Angst und lass dich von keinem Gegner einschüchtern!

Mit diesen Worten können wir euch getrost entlassen. Mit diesen Worten könnt ihr getrost gehen. Selbst in ungewissen Zeiten, bieten sie eine sichere Orientierung, weil sie darauf verweisen, was unverrückbar feststeht: GOTT ist da, wenn Du dein Glück in die Welt hinausschreien kannst. GOTT ist da, wenn du mal im Meer der Traurigkeit zu ertrinken drohst. ER ist da, wenn Du weggehst und ER ist da, wenn du heimkehrst.

Ich habe euch das schon an eurem ersten Schultag gesagt, in der Andacht über die Achterbahn, und ich sage es heute an eurem letzten Tag am TFG: GOTT ist da. – Vergesst das nicht. Macht‘s gut!