Predigt am 31. Juli 2022 in der Ev. Kirche auf dem Damm

Zwei Kinder spielen an einem See. Dort gibt es einen abgegrenzten Bereich, in dem Kinder gefahrlos im Wasser toben können. So tuckern die beiden mit ihren Luftmatratzen im seichten Wasser. Ihr Vater kommt dazu: ‚Kommt, wir fahren rüber zu der kleinen Insel!’ Der Jüngere ist sofort Feuer und Flamme. Wie Kolumbus sitzt er auf seiner Luftmatratze und will in See stechen. Sein großer Bruder schaut ängstlich: ‚Nein, ich bleibe lieber im flachen Wasser!’[1] Die Kinder könnten meine Kinder sein. Wagemut und Vorsicht waren genauso verteilt, als sie klein waren. Vor allem Christian, als unser erstes Kind, hat von uns Eltern oft gehört: „Sei vorsichtig. Pass auf!“ Bei Hannah sind wir dann als Eltern mutiger geworden und haben nicht mehr ganz so viel zur Vorsicht gemahnt. Ob sie deshalb mutiger war?

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Wie ist das bei Ihnen mit der Vorsicht und dem Wagemut? – Gehören Sie eher zu den vorsichtigen Menschen? Die sich erst einmal genau umschauen, Risiken abwägen, versuchen sich abzusichern? Oder sind sie mehr der wagemutige Typ? Der sich ins Leben stürzt, ohne Netz und doppelten Boden, und dann schaut, wie er mit den Herausforderungen und Gefahren umgeht? – Wie ist das bei Ihnen? Wo sehen Sie sich in der Szene am See? Bleiben sie mit der Luftmatratze lieber im flachen Wasser, oder wagen sie sich ins Tiefe auf dem Weg zu neuen Ufern?

Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein. Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst! , und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie traten in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

(Matthäus 14,22–33)

Der Bibeltext, den wir vorhin in der Lesung gehört haben, handelt auch von dieser Frage. Die Jünger sind auf dem See. Jesus hat sie allein mit dem Boot über den See geschickt. Für die Jünger ist das nichts Besonderes. Schließlich sind viele von ihnen Fischer von Beruf. Sie sind am See und im Boot groß geworden. Wind und Wellen sind ihre täglichen Gefährten. Doch in dieser Nacht ist es keine einfache Überfahrt. Die Wellen schlagen hoch und der Wind steht ihnen entgegen. Ihre Erfahrung sagt ihnen, dass das nicht ungefährlich ist. Bei Sturm fährt man nicht über den See, schon gar nicht mitten in der Nacht. Wind und Wellen sind unberechenbar…

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Unberechenbar wie der Ozean des Leben, auf dem wir alle unterwegs sind, und mit dem wir unsere Erfahrungen gemacht haben. Wir haben unser eigenes Lebensschiff gebaut und so gut es geht ausgestattet und abgesichert. Es trägt uns relativ sicher über die Wellen und bietet Schutz in vielen größeren und kleineren Stürmen. Und trotzdem wissen wir, dass Wind und Wasser nicht berechenbar sind. Alle Erfahrungen, alle möglichen Hilfsmittel, Versicherungen und Vorkehrungen können es nicht verhindern, dass unser Schiff manchmal in Gefahr gerät. Dass es uns vorkommt wie eine wackelige Nussschale, in der ich das Steuer zwar in der Hand halte, den Kurs aber nicht mehr im Griff habe. In dem es plötzlich drunter und drüber geht und streckenweise kein rettendes Ufer in Sicht ist. Dann auf dem Wasser zu sein ist ein Risiko…

Das Leben ist voll dieser Risiken. – In den letzten Monaten sind wir ja schon froh, wenn auch nur eine Woche vergeht, ohne dass wir uns mit schrecklichen Meldungen zur Pandemie, dem Krieg in der Ukraine oder der wirtschaftlichen Entwicklung auseinandersetzen müssen. Das Leben ist voll dieser Risiken. – Das gilt aber auch noch viel grundsätzlicher. Meiner Frau und mir ist das besonders deutlich geworden, als unser erstes Kind geboren wurde. Niemals zuvor haben wir so tiefe Freude erlebt, niemals zuvor hatten wir so große Angst. Als Eltern wurde uns unmittelbar klar, dass wir das Leben und die Zukunft unserer Kinder nicht in der Hand haben. Denn bei aller Liebe und Fürsorge, stoßen wir als Menschen immer auch an unsere Grenzen. Wir können nicht machen, dass unsere Kinder gesund bleiben und ihnen nichts Schlimmes zustößt im Leben. Wir können nicht machen, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen und die falschen Wege meiden. – Das Leben unserer Kinder haben wir nicht in der Hand, genauso wenig wie das eigene Leben. Der Ozean des Lebens ist unberechenbar. Wer besonders vorsichtig ist, der wird vielleicht entscheiden, mit dem eigenen Lebensschiff gar nicht erst in See zu stechen, sondern vorne im flachen Wasser zu bleiben. Von den Inseln mitten im Meer und all den anderen Ufern, wird man dann allerdings ein Leben lang nur träumen…

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Es sei denn man wagt es und bricht auf. Wie es die Jünger in jener Nacht getan haben. Sie nehmen Wind und Wellen in Kauf, um ans gegenüberliegende Ufer zu gelangen … und haben dabei – ganz menschlich – einfach auch Angst. Vielleicht wären sie umgekehrt, hätten aufgegeben, die Ruder eingeholt und sich vom Wind zurücktreiben lassen, wenn Jesus nicht mitten in der Nacht über das Wasser zu ihnen gekommen wäre und mit ihnen gesprochen hätte. „Der alles entscheidende Satz steht interessanter Weise genau in der Mitte der Geschichte. Jesus sagt zu seinen Jüngern:

„Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“

(Matthäus 14,27).

Als Petrus das hört, tut er etwas ganz Verrücktes. Es hätte ja gereicht, wenn sie weitergerudert wären, gegen den Wind und gegen die Wellen. Aber Petrus will es jetzt wirklich wissen und riskiert das Unmögliche: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und Jesus ruft: Komm her! (Mt 14.28f). Petrus steigt aus dem Boot, das eben noch sein letzter Halt gewesen ist. Und tatsächlich: Das Wasser trägt. Petrus läuft auf dem See. – Das geht, aber nicht lange. Als ihm klar wird, wo er sich befindet, was er da gerade tut und was alles passieren kann, da beginnt sein Vertrauen zu sinken und er – Petrus – sinkt gleich mit.

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Hier wird deutlich, welch eigenartige Bewandtnis es mit dem Vertrauen hat: Vertrauen ist bedingungslos. Es beruht zwar auf Gegenseitigkeit, aber nur so, dass der Vertrauende stets in Vorlage treten muss. Vertrauen lässt sich nicht aus einer sicheren Position heraus bekommen. Wer erst alle Risiken ausloten, alle Gefahren bewerten, alle Unwägbarkeiten ausschließen muss, wird dabei kein Vertrauen finden. Vertrauen gibt es nicht ohne Risiko! Petrus musste den Schritt über die Bootswand wagen, den Fuß auf die Wasseroberfläche stellen, um zu merken, dass das Wasser ihn trägt. Das Einzige, woran er sich dabei festhalten kann, sind Jesu Worte: Komm her! Hab Vertrauen, ich bin’s; fürchte dich nicht!

Vertrauen ist immer ein Wagnis. Im Großen wie im Kleinen. Es gibt kein Leben ohne Vertrauen, deshalb ist das Leben auch immer ein Wagnis. Und Vertrauen ist nie ohne Risiko. Die Bibel nennt dieses grundlegende Vertrauen in das Leben: Glaube. Wer sich auf das Risiko des Lebens einlässt – wer vertraut, das heißt, wer glaubt – der erlebt, dass der Glaube trägt. Und wir nicht tiefer fallen können, als ins Gottes Hand.

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Wie ist das bei Ihnen, liebe Gemeinde, mit der Vorsicht und dem Wagemut? – Gertrude Wilkinson hat im Alter von 83 Jahren auf ihr Leben zurückgeblickt und geschrieben:

Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen,
würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde alberner sein, würde ganz locker werden.
nur noch ganz wenige Dinge ernstnehmen.
Ich würde entschieden verrückter sein und weniger reinlich.

Ich würde mehr Gelegenheiten beim Schopfe ergreifen
und öfters auf Reisen gehn.
Ich würde mehr Berge ersteigen, mehr Flüsse durchschwimmen
und mehr Sonnenaufgange auf mich wirken lassen.

Ich würde mehr Schuhsohlen durchlaufen,
mehr Eis und weniger Bohnen essen.
Ich würde mehr echte Probleme
und weniger eingebildete Nöte haben.

Wie sie bemerkt haben werden, bin ich eine von denen,
die vorsorglich, vernünftig und gesund leben.
Stunde für Stunde, Tag für Tag.
Nun, ich habe meine verrückten Augenblicke,
aber wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte,
würde ich mehr verrückte Augenblicke haben.
Genau gesagt: Augenblicke, einen nach dem andern
und nichts mehr von Plänen zehn Jahre voraus.

Wissen sie, ich bin eine von denen, die für alle Fälle
Thermometer, Wärmeflasche, Gurgelwasser,
Regenmantel und Fallschirm bei sich haben.
Hätte ich ein zweites Leben, ich würde sie zu Hause lassen.
Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen,
ich würde in aller Herrgottsfrühe barfuß in den Frühlingsmorgen laufen
und als letzte sagen: Jetzt ist der Herbst dahin.
Ich würde mehr Hockey spielen und vom Karussell
würden sie mich nicht mehr herunterbringen.

(Gertrude Wilkinson 1986)

Wie ist das bei Ihnen mit der Vorsicht und dem Wagemut? – Jesus kommt auch zu uns über das Wasser, während wir in unserem Lebensboot unterwegs sind. Wenn wir überlegen, ob wir lieber im Flachen bleiben, oder uns ins Tiefe wagen sollen. Auch uns ruft er zu: Kommt her! Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! – Ich meine: Lasst uns gehen. Auf ins Tiefe!

 


[1] Vgl. Vorländer, Martin: Gottesdienstentwurf zum Fastenmotto 2013. In: 2013. Arbeitshilfe zum Thema „Riskier was, Mensch!“ mit offiziellen Bildmotiven auf einer CD-ROM, hg.v. Hansischen Druck- und Verlagshaus GmbH, Frankfurt a.M. 2012, 5–7.