Predigt am letzten Sonntag nach Epiphanias in der Johanneskirche Düsseldorf

Gipfelerfahrungen! – Wer schon einmal im Gebirge unterwegs war, der weiß was gemeint ist: Kaum oben auf dem Gipfel angekommen, den Schweiß noch nicht ganz von der Stirn gewischt und so gerade wieder zu Atem gekommen, werden wir für alle Mühen entlohnt: Die gigantische Aussicht rundherum, die Einsamkeit des Gipfels und die Einsicht wie klein wir doch sind angesichts der Größe der Schöpfung. Aber gleichzeitig auch ein Gefühl der Erhabenheit, ja der Erhebung, das Gefühl einer großen Nähe zum Ganzen der Schöpfung Gottes, die in diesem Moment nur für uns da zu seinen scheint. Ein perfekter Moment! Solch perfekte Momente, die gibt es aber auch ganz ohne Berge. Momente, in denen einfach alles stimmt, in denen die Zeit still zu stehen scheint: Der unvergessliche Abend mit dem Partner oder der Partnerin vielleicht, oder ein Buch, bei dem man alles um sich herum vergisst, das Gespräch mit Freunden, ein Konzert, ein Lied, ein Tanz… Das sind Momente, in denen ein Augenblick zur Ewigkeit werden kann, in denen wir vollkommen eins sind mit unserem Leben, unseren Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen. Ein Stück Himmel auf der Erde. So wie der Gottesdienst – wenigstens manchmal. Wenn er zu einer lebendigen Begegnung wird mit unserem Gott wird. Weil ein Lied oder ein Gebet, ein Wort aus der Lesung oder der Predigt, die Gemeinschaft am Altar, der Empfang von Brot und Wein oder der Segen am Schluss eine Seite in uns zum Schwingen und zum Klingen bringen. Weil wir für einen kurzen Moment den Himmel offen sehen und spüren wie unsere Seele gesund wird. Weil sich dann Himmel und Erde berühren wie auf dem Gipfel eines Berges. Gipfelerfahrungen! – Sie haben zwei Dinge gemeinsam: Erstens sind sie unendlich schön und zweitens sind sie ungeheuer flüchtig. So gerne man sie festhalten möchte, sie lassen sich nicht fassen. Ja mehr sogar noch: Je mehr man sie zu halten versucht, desto schneller sind sie vorbei. Jeder Bergsteiger weiß: Irgendwann muss man wieder herunter vom Berg…

Nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.  Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.  Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.  Petrus aber fing an und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.  Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!  Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!  Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.  Und als sie vom Berge hinab gingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.

Matthäus 17,1–9

Ich kann ihn schon verstehen, den Petrus. Ihm wurde – zusammen mit Jakobus und Johannes – ein ganz besonderes Gipfelerlebnis zu teil, das die Aussicht oben auf dem Berg vollkommen in den Hintergrund treten ließ. Sie sahen den Himmel offenstehen. Elia und Mose, die großen Propheten und himmlischen Gestalten standen direkt vor ihnen. Sie unterhielten sich mit Jesus, den sie in einer Weise sahen, wie es noch zuvor gewesen ist: Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. (Mt 17,2) Das war nicht mehr der irdische Jesus, nein, das musste der himmlische Christus sein. So musste es aussehen, wenn das alles eintraf, was Jesus über sich gesagt hatte: Dass er auferstehen würde und in den Himmel aufgenommen. Ja, Petrus, Jakobus und Johannes bekamen die Herrlichkeit des Auferstandenen, des himmlischen Christus zu sehen. Auf diesem Berg konnten sie für einen Moment in den Himmel blicken. Sie sahen das Ziel des Weges, den Jesus ging und die Herrlichkeit seines endgültigen Sieges über den Tod. Gerade darüber hatten sie ja gesprochen, kurz bevor sie auf den Berg stiegen. Jesus hatten den Jüngern angekündigt, dass ihm ein schwerer Weg bevorstand. Dass sie nach Jerusalem gehen würden, wo Leid, Folter, Kreuz und Tod auf ihn warteten, bevor er am dritten Tage von den Toten auferstehen würde. Petrus hatte noch versucht ihn davon abzubringen. Hatte die Reise nach Jerusalem mit Händen und Füßen ausgeredet. – Doch davon wollte Jesus nichts wissen. Er weiß: Das alles muss geschehen. Und mehr noch: Wer ihm nachfolgt, dem steht Gleiches bevor. Will mir jemand nachfolgen, der leugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. (Mt 16,24) Das waren seine Worte am Fuße des Berges. Das war die Schreckensvision, mit der im Kopf und in den Herzen die Jünger auf den Berg gestiegen waren. – Und dann diese Herrlichkeit, dieses Licht, diese Unversehrtheit, dieser Frieden: Das musste sie sein, Erlösung, von der Jesus so oft zu ihnen gesprochen hatte! Da platzt es aus Petrus heraus: Herr, hier ist gut sein! (Mt 17,4) – Petrus will festhalten, was sie auf dem Gipfel erfahren und erlebt haben. Drei Hütten will er bauen, für Jesus, für Mose und Elia. Damit sie hier bleiben können auf dem Berg und nicht wieder hinuntermüssen. Das wäre es doch! Den dunklen Weg nach Jerusalem, den Weg des Leidens und Sterbens zu überspringen und gleich weiterzugehen zum Licht des Ostermorgens, dieser Gedanke ist einfach zu verlockend.

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Das ist heute wohl nicht anders als damals zur Zeit Jesu. Als Vikar bin ich im Krankenhaus zu einer Frau gerufen worden, die wollte, dass ich das Kruzifix von der Wand nehme, das ihrem Bett gegenüber hing. Sie war der Meinung, dass von dieser geschundenen Gestalt am Kreuz kein Trost für einen kranken Menschen ausgehen könne und es daher unverantwortbar sei, das ein solches Symbol des Leidens und Sterbens in einem Krankenzimmer hängt. Leiden und Sterben kämen in ihrer Religion nicht vor. Da gäbe es nur Glück und Zufriedenheit durch Meditation und Gebet. Da stand ich dann als unerfahrener Vikar und habe fiberhaft überlegt, was ich sagen soll… Unser Predigttext heute ist mir damals leider nicht eingefallen. Dabei hätte ich mit der Frau gemeinsam darüber nachdenken können, warum dem Petrus der mehr als verständliche Wunsch verwehrt wird, auf dem himmlischen Gipfel des Berges zu bleiben. Warum er die drei Hütten dort oben nicht bauen durfte. Stattdessen taucht ja eine Wolke aus Licht Petrus und die beiden anderen Jünger in Schatten und sagt ihnen an: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören! (Mt 17,5) Eine klare Richtungsanzeige: „Jetzt heißt es nicht mehr den eigenen Sehnsüchten nachzulauschen, sondern wirklich auf Jesus zu hören. Und der sagt deutlich genug, was jetzt kommen wird: Hinunter von den Höhen. Hinein in den schwierigen Lebensalltag. Hinauf am Ende nach Jerusalem.“[1] Die Jünger sollen verstehen: Was sie gesehen haben, das war gut und das war wichtig. Die Herrlichkeit Gottes ist bereits gegenwärtig und hier und dort können wir etwas von ihr erfahren. Ja, wir brauchen die Gipfelerfahrungen unseres Lebens. So schön und so flüchtig zugleich. Denn endgültig ist es für sie noch nicht an der Zeit. – Im Alltag des Lebens kommt unser Glaube nicht am Kreuz vorbei. Deshalb muss Jesus vom Gipfel wieder hinunter, weil es noch viele finstere Täler gibt, die von seinem Licht noch nicht beschienen sind. Er muss hinunter in den Alltag. An die Seite der Menschen in der Ukraine. Zu den Protestierenden im Iran. An die Abbruchkante von Lützerath. Jesus muss hinein in den Alltag mit all den Fragen, den Zweifeln, der Ohnmacht, der Trauer und der Angst. Damit die Hütte Gottes dort steht, wo die Menschen leben und nicht oben auf dem Berg, wo nur wenige hinkommen. Deshalb muss Jesus vom Gipfel wieder hinunter! – Und seine Jüngerinnen und Jünger mit ihm. Jesus nachzufolgen, heißt mit ihm hinunterzusteigen in den Alltag. Jesus nachzufolgen heißt, mit ihm gemeinsam an der Seite derjenigen zu stehen, die durch ein finsteres Tal müssen. Damit sie etwas von dem Licht erfahren, das oben auf dem Gipfel zu sehen ist.

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Heute ist der letzte Sonntag nach Epiphanias. Im Kirchenjahr verlassen wir heute den Weihnachtsfestkreis und es geht auf die Passionszeit zu. Lasst uns heute mit Jesus den Abstieg beginnen. Lasst uns das Licht von Weihnachten mitnehmen in die Passionszeit. Lasst es uns mit denen teilen, die uns begegnen. Auf das es uns und allen den Weg leuchtet bis zum Ostermorgen.


[1] Max Koranyi: Gipfeltreffen. Letzter Sonntag nach Epiphanias, 1. Februar, in: Zeitzeichen (2009), 48-49, 49.