Ein Essay über den Heiligen Martin*
In einem gewaltigen Zug bewegen sich Schüler:nnen, Lehrer:innen, Eltern, Großeltern und Geschwisterkinder durch die dunklen Straßen. Angeführt von einem römischen Soldaten hoch zu Ross, begleitet von einer Kapelle, mit Laternen und Gesang. Ein Martinszug in Duisburg noch vor den Einschränkungen durch die Pandemie. Ungewöhnlich für ein Gymnasium, wohl Teil des besonderen Profils als erzbischöflicher Schule. Gleich zu Beginn gibt es auch eine kurze Andacht in der Kirche. Es geht um die Not des Bettlers, der den Mantel bekam, und um das Licht der Laternen und um das Teilen. Mantel, Licht und Teilen. Eine einfache Botschaft.
Der Heilige Martin ist neben dem Nikolaus wohl der populärste Heilige der Katholischen Kirche. Schon zu Lebzeiten muss er populär gewesen sein. Ein Freund hat „Das Leben des Heiligen Martin“ noch zu dessen Lebzeiten in Form eines Briefes festgehalten. Unmittelbar nach dessen Tod wurde die Schrift dann mit zwei weiteren Briefen veröffentlicht. Das war um das Jahr 400 nach Christus. Ein dritter Brief, der vom Tod Martins berichtet, folgte später. Das meiste von dem, was wir über Martin von Tours wissen, stammt aus diesen Briefen. Biografisches von historischem Wert ist darin eng verwoben mit legendarischen Erzählungen von Wunderheilungen und Dämonenaustreibungen. Sulpicius Serverus erzählt von der Jugend seines Freundes Martin, über dessen Leben als Soldat, seine Taufe mit 18 Jahren und das Leben als Mönch, sein ungewöhnlicher Weg zum Bischof von Tours, sein Klosterleben, die Missionstätigkeit in Gallien und seine Auftritte am Hof des Kaisers Maximus. Wer möchte, kann das alles in einer Reclam-Ausgabe nachlesen, wahlweise auf Lateinisch oder Deutsch.
Als Martin starb, wurde er von einer riesigen Menschenmenge begleitet, die seine Leiche unter „himmlischen Gesängen zur letzten Ruhestätte“ geleiteten. Das war, sozusagen, der erste Martinszug. Unser Zug führt traditionell an einem Altenheim vorbei. Da werden dann Weckmänner und selbstgebastelte Laternen an die Bewohnerinnen und Bewohner verschenkt werden. In diesem Jahr geht das nicht, weil das Heim ein neues Gebäude bekommen hat, das außerhalb des Einzugsgebiets der Schule liegt. Wir erfahren, dass ein Lehrer die Weckmänner und die Laternen am nächsten Tag dorthin bringen wird. Schade, dass die Bewohnerinnen diesen großen, lebendigen, singenden Zug in diesem Jahr nicht sehen und hören können.
Während wir durch die dunklen Straßen laufen, zieht es meinen Blick immer wieder zu den Fenstern der Häuser. Viele sind erleuchtet, in machen sind schemenhaft Gestalten hinter der Scheibe zu erkennen. Wer da wohl wohnt? Sind hier nicht vielleicht auch Menschen, die sich über einen Weckmann und eine Laterne freuen würden als Zeichen dafür, dass wir sie gesehen haben und an sie gedacht? Wie komme ich bloß auf solche Gedanken? Abends allein auf dem Weg durch dunkle Straßen und Gassen habe ich noch nie darüber nachgedacht. Es muss an dem großen Martinzug liegen, in dem ich laufe. Die Gedanken der Andacht im Ohr und umgeben von Laternen. Irgendwie weitet das meinen Blick, macht das Gefühl der Gemeinschaft mutig. Zumindest für den Moment.
Der Zug kommt auf einem Platz an, in dessen Mitte schon ein großes Feuer brennt. Der Soldat umrundet auf seinem Pferd das Feuer. Wer ganz genau hinsieht erkennt, dass es sich um wohl eher um Sankta Martina handelt. Die Schulleiterin hat sich persönlich die Soldatenkleidung angelegt und sich in den Sattel geschwungen. Hoch zu Ross begegnet sie nun dem frierenden Bettler. Das Schwert wird gezückt, der Mantel geteilt. Den einen Teil reicht sie dem Bettler herunter, der sich darin einwickelt. Den anderen behält sie für sich. Das ist die Szene, die wir mit dem Heiligen Martin von Tours verbinden. Bei keinem Martinszug darf sie fehlen. Unzählige Male ist sie auf Bildern und in Mosaiken festgehalten worden. Die ältesten bildlichen Darstellungen zeigen diese Szene allerdings ganz anders als wir sie kennen und Jahr für Jahr nachspielen.
Das Fuldaer Sakramentar aus der Zeit um 980 n.Chr. zeigt Martin und den Bettler ganz ohne Pferd beieinanderstehend, während Martin den Mantel teilt. Sie blicken sich in die Augen. So ähnlich zeigen die Szene alle frühen Darstellungen. Wenn Martin nicht abgestiegen ist und neben dem Pferd steht, dann sitzt er auf einem so kleinen Pferd, dass der Bettler ihm neben dem Pferd stehend in die Augen schauen kann. Oder der Bettler ist überproportional groß dargestellt, so dass der Blickkontakt aufrechterhalten wird. Die Begegnung mit dem notleidenden Nächsten geschieht in jedem Fall auf Augenhöhe. Erst etwa im 14. Jahrhundert verändert sich die Darstellung der Mantelteilung. Martin wird jetzt als Ideal des christlichen Ritters dargestellt. Zwischen dem Reiter auf dem Pferd und dem Bettler im Dreck ist das Ständegefälle zwischen den beiden unübersehbar. Der Mantel wechselt von oben nach unten. So ist das Bild im Grunde geblieben. Bis heute. Auf dem Platz vor dem Feuer haben wir es hier gerade alle gesehen. Das macht mich schon nachdenklich. Kann man wissen, wie es tatsächlich gewesen ist? Mal angenommen, dass der 17jährige Soldat Martin tatsächlich an jenem Wintertag auf seinem Pferd unterwegs war, als er dem Bettler begegnete, dann spricht doch vieles dafür, dass er abgestiegen ist, um dem Bettler zu begegnen. Das Bild, das sein Freund Sulpicius im „Leben des Heiligen Martin“ zeichnet, zeigt – selbst dann, wenn man es weitestgehend von legendarischen Übermalungen befreit – einen Menschen, dem Standesdünkel und Statussymbole gänzlich unwichtig waren. Martin hat eine Form des Mönchtums begründet, in der Beten und Handeln untrennbar miteinander verbunden waren. Als Bischof von Tours residierte er nicht im Bischofshaus; er lebte er in einem Kloster vor den Toren der Stadt. In einer Zeit, in der sich das Christentum von einer kleinen verfolgten Sekte zur Staatsreligion des Römischen Reiches entwickelt hatte, wollte und konnte der Bischof Martin auf diese Weise vielleicht das in seinen Augen authentisch Christliche bewahren.
Worin aber besteht das authentisch Christliche? Und ist das Teilen des Mantels dafür ein gutes Beispiel? Meine Gedanken überschlagen sich. Da sind der Bettler und der Soldat, beide mit nur einem halben Mantel. Jetzt müssen sie beide frieren. Sulpicius Serverus hält in seiner Darstellung fest, dass die Umstehenden, die die Szene mit dem halben Mantel beobachteten, Martin regelrecht ausgelacht haben. Vernünftig war das nicht. Martin hätten den ganzen Mantel verschenken können und sich dann einen neuen organisieren. Oder mit dem Mantel losreiten, um für den Bettler einen Mantel zu kaufen. So aber, mit je einem halben Mantel, war doch keinem nachhaltig geholfen. Oder etwa doch? Das Teilen des Mantels war ein unüberbietbares Zeichen der Solidarität. Der Bettler wird tatsächlich gesehen. In der ganzen Realität seiner Not und in der ganzen Wirklichkeit seiner Menschenwürde. Martin begibt sich auf Augenhöhe.
Dein Ort ist
wo Augen dich ansehn.
Wo sich Augen treffen
entstehst du.(Hilde Domin)
Wenn Martin den Mantel teilt, dann teilt er damit gerade nicht seinen Wohlstand mit dem Armen. Es ist vielmehr umgekehrt: Er teilt – in dieser würdelosen Situation – jetzt frierend die Not des Bettlers. Mit dem halben Mantel Mantel macht Martin den Bettler zum ganzen Menschen. – Halber Mantel, volle Solidarität. – Eine ganz andere Logik des Teilens. Sie passt zum Fortgang der Geschichte der Begegnung zwischen Martin und dem Bettler, wie sie Sulpicius Serverus erzählt: „In der folgenden Nacht nun erschien Christus mit jenem Mantelstück, womit der Heilige den Armen bekleidet hatte dem Martinus im Schlaf.“ Selbstverständlich ist das mehr eine theologische Deutung als eine biographische Begebenheit. Gleichzeitig aber sind Martins Leben und sein Handeln ohne Bezug zu seinem Glauben nicht vernünftig nachvollziehbar. Vernünftig erscheint das Teilen des Mantels und das Frieren mit dem Bettler nur in der Logik der Worte Jesu aus dem Matthäusevangelium:
Was ihr für einen meiner Brüder oder eine meiner Schwestern getan habt
– und wenn sie noch so unbedeutend sind –,
das habt ihr für mich getan.‹(Matthäus 25,40 – Basisbibel)
Im bekannten Gleichnis vom großen Weltgericht geht es nicht um eine Verteilungsgerechtigkeit, die einen vordergründigen Ausgleich herstellt zwischen Arm und Reich. Es geht um den grundlegenden Anspruch auf Hilfe in der Not wegen der fundamentalen Gleichheit in der Würde als Mensch. Die wiederum ist darin begründet, dass uns in jedem Menschen der Christus Gottes begegnet. Gott als Mensch – mit uns Menschen auf Augenhöhe.
Um das Feuer herum geben jetzt Oberstufenschülerinnen Weckmänner in die Menge. Das Teilen soll geübt werden. Satt wird durch ein Stückchen Weckmann niemand. Gut so, denke ich trotzig. Es geht an Sankt Martin schließlich um diese andere Logik des Teilens. Vielleicht würde die noch deutlicher, wenn der oder die Heilige im nächsten Jahr von seinem oder ihrem Pferd abstiege, um dem Bettler zu begegnen. Wenn die beiden mit ihren halben Mänteln dann vor Kälte zitterten. Wahrscheinlich würde das dem historischen Martin von Tours deutlich gerechter. Der durch seine Orientierung an Christus in besonderer Weise frei und unabhängig wurde von den Maßstäben dieser Welt und gerade dadurch in beeindruckender Weise christlich, d.h. wahrhaft menschlich.
* Der Essay ist auch auf zeitzeichen.net veröffentlicht.
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