Predigt zum Gründonnerstag im Haus der Landeskirche

Es war in der Grundschule, ich meine in der vierten Klasse. Da hatten wir Schwimmunterricht. Nach dem Ausziehen mussten wir nackt unter die Dusche, um uns richtig waschen zu können. Danach zogen wir die Badesachen an und gingen ins Schwimmbad. An diesem einen Tag muss ich total in Gedanken gewesen sein. Fast die ganze Klasse – Jungen und Mädchen – saß schon auf der Bank, als ich die aus der Dusche in die Schwimmhalle kam. Es gab es ein ohrenbetäubendes Kreischen und Lachen. Ich war total irritiert, bis ich merkte, dass ich vergessen hatte meine Badehose anzuziehen. Es war so was von peinlich. Ich stand komplett nackt und vollkommen schutzlos vor der gesamten Klasse. Ich konnte nichts weiter tun, als in die Dusche zu fliehen. Da wäre ich dann auch am liebsten gar nicht mehr rausgekommen. Was natürlich nicht ging. Von da an war ich der „Nackidei“.

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Vielleicht ist er mir deshalb gleich aufgefallen, der nackte junge Mann in der biblischen Passionserzählung. Ein kleines Detail beim Evangelisten Markus. Zwei Verse, die in keinem anderen Evangelium zu finden sind. Nachdem Judas Jesus durch einen Kuss verraten hatte und die Leute des Hohenpriesters ihn ergriffen hatten, heißt es dort:

Da ließen ihn alle Jünger im Stich
und ergriffen die Flucht.
Nur ein junger Mann blieb bei ihm.
Der war nur mit einem Leinentuch bekleidet,
darunter war er nackt.
Auch ihn wollten sie festnehmen.
Aber da ließ er das Leinentuch fallen
und rannte nackt davon.

Markus 14,50–52

Ein nackter junger Mann, der in die Nacht entflieht. Eine rätselhafte Szene. Wer ist das? Warum beschreibt Markus diese Szene in seinem Evangelium? Was ist aus dem jungen Mann geworden? Die Bibelwissenschaft hat keine eindeutigen Antworten. Die Liste der in Frage jungen Männer ist lang, die Argumente für jeden einzelnen sind eher schwach, manche wirklich abenteuerlich. Es ist auch erwogen worden, dass der Evangelist Markus mit dem nackten jungen Mann sich selber in sein Evangelium geschrieben hat. So wie Maler sich früher gern versteckt in ihre Gemälde hinein malten oder Regisseure manchmal als Komparsen kurz in ihren Filmen auftauchen. Wenn das so sein sollte, dann hat der Evangelist sich selbst allerdings keine ruhmreiche Rolle zugedacht. Die Szene steht in einer Reihe mit weiteren Schilderungen des Versagens der Jüngerschaft. So wie die Erzählung von Petrus, der Jesus dreimal verleugnet hat bevor der Hahn zweimal krähen konnte. Denn angesichts der Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung Jesu sind die Jünger allesamt keine Helden. Sie fliehen, leugnen und versuchen ihre nackte Haut zu retten.

Da ist er mir auf einmal ganz nahe, der nackte junge Mann… Oder wo würden Sie sich wiederfinden in der Erzählung von Jesu Leiden und Sterben? Ich wäre wahrscheinlich der junge Mann mit dem Leinentuch. Der begeistert dabei gewesen ist und mit Jesus durch die Dörfer zog. Doch als es dann eng wurde an jenem Abend in Getsemani, da hätte ich wahrscheinlich nicht zum Schwert gegriffen, sondern wäre geflohen, ob mit oder ohne Mantel. Und hätte mich hinterher wahrscheinlich genauso gefühlt, wie ich dastand: ängstlich, hilflos, nackt enttäuscht und traurig über mich selbst. Vielleicht hat der Evangelist Markus mit dem nackten jungen Mann nicht nur sich selber in das Evangelium hineingeschrieben, sondern uns alle. Hineingeschrieben in die Dunkelheit der Nacht des Verrats, der Verhaftung, der Verzweiflung und des Todes. Mit ihrer nackten Angst, dem blanken Entsetzen, der Hilflosigkeit, der Flucht und der Scham. Diese Nacht kenne ich auch: Krankheit und Sterben, Angst und Zweifel, Krieg, Terror und Gewalt, immer wieder sinnloser Tod. Das stellt meinen Glauben auf eine harte Probe, das nimmt meinem Glauben das letzte Hemd und lässt mich nackt und schutzlos zurück. Der nackte Mann in der Todesnacht, das bin ich!

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Wahrscheinlich interessiert es mich deshalb so sehr, was aus dem jungen Mann geworden ist. Wohin ist er gelaufen? Wann blieb er stehen? Wo hat er sich versteckt? Wie ist er damit umgegangen, was in jener Nacht passiert ist? Was ist aus seiner Freundschaft mit Jesus geworden? Was aus seinem Glauben? Wir wissen es nicht. – Oder doch? Im Markusevangelium kommt ganz am Schluss noch einmal ein junger Mann vor. Während Lukas und Johannes Engel auftreten lassen am Ostermorgen, erzählt Markus die Geschichte von den Frauen, die frühmorgens zum Grab gehen, um Jesu Leichnam zu salben, so:

Sie gingen in die Grabkammer hinein.
Dort sahen sie einen jungen Mann.
Er saß auf der rechten Seite
und trug ein weißes Gewand.
Die Frauen erschraken sehr.

Aber er sagte zu ihnen:
»Ihr braucht nicht zu erschrecken!
Ihr sucht Jesus aus Nazaret, der gekreuzigt wurde.
Gott hat ihn von den Toten auferweckt,
er ist nicht hier.
 

Markus 16,5–6

Wieder ein junger Mann. Wieder wird sein Gewand betont. Diesmal ist es weiß. Am Morgen der Auferweckung sitzt er am leeren Grab und spricht mit den trauernden Frauen. Kann es derselbe junge Mann sein? Der Nackte aus der Todesnacht? – Ich finde den Gedanken tröstlich. Ja, es könnte der derselbe junge Mann sein: Der zurückgekommen ist, weil er mit diesem Jesus und seinem Glauben nicht fertig ist. Der erfahren hat, dass Jesus nicht im Tod geblieben ist, dass Gott ihn auferweckt hat und er lebt. Der den Osterglauben angezogen hat, wie ein weißes Gewand, das seine Nacktheit bedeckt, seine Tränen trocknet, seine Angst vertreibt, ihm Kraft gibt und neuen Mut. Er weiß, dass weiße Gewand seines Osterglaubens mehr aushält als er sich vorstellen kann. Wenn Trauer, Angst und Zweifel das nächste Mal danach greifen, dann wird er es nicht loslassen. Er wird sich dran festklammern. – Und es wird nicht reißen, ganz im Gegenteil: Es er wird sich daran festhalten können und es wird ihn festhalten. Der junge Mann in dem weißen Gewand wird das Osterevangelium weitersagen. Den weinenden Frauen, den verzweifelten Jüngern und allen, die es nötig haben.

Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich: Der nackte junge Mann aus der Todesnacht ist der junge Mann mit dem weißen Gewand am Ostermorgen. Auch wenn heute erst der Gründonnerstag ist, an dem wir des letzten Abendmahls gedenken und der Nacht des Verrats. Auch wenn der Karfreitag noch vor uns liegt, an dem wir des Leidens Jesu gedenken, der Qual und des Todes. Wir sollten auch heute nicht ohne den Osterglauben nach Hause gehen. Das weiße Gewand liegt für uns bereit. Denn der Herr ist auferstanden.