Predigt in der Erlöserkirche Hilden am 27. März 2022*

„Hallo Welt“ – Audiobeitrag einer fünfzehnjährigen Schülerin der Wilhelmine-Fliedner-Schule, Evangelische Gesamtschule Hilden:

 

„Hallo Welt“ – Unter diesem Titel haben Jugendliche offene Briefe an die Welt geschrieben, in denen sie ihre Erfahrungen in der Corona-Pandemie verarbeitet haben. Schülerinnen und Schüler haben in der Zeit der Corona-Pandemie vielfach darunter gelitten, dass der Präsenzunterricht wochenlang ausgefallen ist. Hilfe und Unterstützung auf digitalem Wege konnten nicht alle erreichen. Die angespannte Atmosphäre in den Familien und fehlende soziale Kontakte in Schule und Freizeit waren eine enorme Belastung. In den offenen Briefen an die Welt, ist das deutlich zu spüren. Kindern und Jugendlichen ist das Gefühl von Sicherheit verloren gegangen, ihr Grundvertrauen in die Welt und das Leben hat Risse bekommen. Angst greift um sich. Sie haben das Gefühl, „sich fürchten zu müssen, wenn sie nur vor die Türe gehen“. Und das war noch lange vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Geradezu unheimlich sind da die Worte der Schülerin, für die ein dritten Weltkrieg die schrecklichste Zukunftsvorstellung ist. Die sich Sorgen macht um die Menschen, die ihr wichtig sind.

Mich berührt das sehr. Auch, weil ich bei mir selbst wahrnehme, wie mein Grundgefühl von Sicherheit immer mehr ins Wanken gerät. Wie muss das erst für Kinder und Jugendliche sein, die sich nicht auf die Ebene der Rationalität flüchten können, weil sie viele Zusammenhänge noch gar nicht verstehen können. Wie muss das für Kinder und Jugendliche sein, für die der Albtraum schon begonnen hat. Die liebe Menschen durch die Pandemie verloren haben. Wie muss das für die Menschen, jung und alt, in der Ukraine sein, die unter Beschuss stehen und nicht fliehen können. Oder für die, die geflohen sind und um die bangen, die geblieben sind, um zu kämpfen. Wie mögen wohl ihre offenen Briefe an die Welt klingen…?

Paulus, nach dem Willen Gottes
zum Apostel von Christus Jesus berufen –
und der Bruder Timotheus.

An die Gemeinde Gottes in Korinth
und an alle Heiligen, die in der Provinz Achaia leben.

Wir wünschen euch Gnade und Frieden
von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!

(2. Korintherbrief 1,1f)

Paulus und Timotheus schreiben an die Gemeinde in Korinth und an alle Christinnen und Christen in der gesamten Gegend. Unser Predigttext für heute ist auch so etwas wie ein offener Brief an die Welt. Darin schreiben Paulus und Timotheus:

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus!
Er ist der Vater, der uns Barmherzigkeit schenkt,
und der Gott, bei dem wir Ermutigung finden.
Er ermutigt uns in all unserer Not.
Und so können auch wir
anderen Menschen in ihrer Not Mut machen.
Wir selbst haben ja ebenso
durch Gott Ermutigung erfahren.
Allerdings wird auch uns in reichem Maß das Leid zuteil,
das Christus erlebt hat.
Aber genauso erfahren wir in reichem Maß
auch die Ermutigung, die er schenkt.

Wenn wir in Not geraten,
sollt ihr dadurch ermutigt und gerettet werdet.
Wenn wir ermutigt werden,
sollt ihr dadurch neuen Mut schöpfen.
So könnt ihr geduldig dieselben Leiden ertragen,
die auch wir ertragen müssen.
Wenn wir an euch denken,
sind wir sehr zuversichtlich.
Denn wir wissen,
dass ihr ebenso wie an dem Leiden
auch an der Ermutigung Anteil habt.

(2. Korintherbrief 1,3–7)

Auch in diesem Brief sind Leiden und Not deutlich spürbar. Paulus hat es am eigenen Leib erlebt: Er hat sich in Todesgefahr befunden. Hat erlebt, dass er schon am Leben verzweifelt war und das Todesurteil über sich schon gesprochen sah. Seine Leserinnen und Leser konnten das nachempfinden. Auch sie kannten Bedrängnisse, die ihnen die Kehle zuschnürten und die Luft zum Atmen nahmen. Sechsmal kommen die Worte Leiden und Not in den wenigen Zeilen vor. Leiden, Not und Gefahr sind allgegenwärtig in diesem offenen Brief an die Welt.

Das will nicht so recht zu seinem Anfang passen: Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! (1Kor 1,3a) – Lob, Freude, Dankbarkeit. Das passt zum heutigen Sonntag Lätare, d.h. „freut euch“. Zur Situation der Gemeinde in Korinth damals und zur gegenwärtigen Lage in der Welt heute, passt das wohl kaum. Paulus und Timotheus müssen das erklären: Gott ist der Vater, der uns Barmherzigkeit schenkt, und der Gott, bei dem wir Ermutigung finden. (1Kor 1,3b) – Ermutigung ist das zweite Wort, dass gleich mehrfach vorkommt. Zehnmal insgesamt. Paulus sieht einen Zusammenhang zwischen Not und Leiden auf der einen und Ermutigung und Trost auf der anderen Seite. Darum geht es ihm in seinem offenen Brief an die Welt.

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Wir selbst haben ja, schreibt Paulus, durch Gott Ermutigung erfahren. Allerdings wird auch uns in reichem Maß das Leid zuteil, das Christus erlebt hat. Aber genauso erfahren wir in reichem Maß auch die Ermutigung, die er schenkt. (2Kor 1,4b–5)  Dreh- und Angelpunkt ist Jesus Christus. Sein Leiden und Sterben ist für Paulus die Quelle der Ermutigung. Denn in Jesus Christus ist Gott mitten in der Welt. Gott ist in Jesus selbst Kind und Jugendlicher geworden. Hat erlebt, wie wichtig das Urvertrauen in die Welt und das Leben ist. Hat erfahren, was es heißt, wenn es Risse bekommt. Gott ist in Jesus Mensch geworden in einer Zeit, in der Sicherheiten ins Wanken gerieten und Angst um sich griff. Gott hat in Jesus Trauer, Ohnmacht und Verzweiflung erlebt, weil ihm liebe Menschen gestorben sind. Gott ist in Jesus in Todesgefahr geraten. Ist verraten, gefoltert und getötet worden. Gott ist uns damit so nahegekommen, dass er in jeder Not, in jedem Leiden und jeder Angst in Jesus Christus bei uns an unserer Seite ist. Deshalb sind für Paulus Not und Leiden durch Jesus Christus untrennbar verbunden mit Ermutigung und Trost. Gott teilt unsere Not und unser Leid und wird uns gerade dadurch zur Quelle der Ermutigung. Geteiltes Leid ist hier nicht halbes Leid, – sondern doppelter Trost!

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Das gilt für Paulus und Timotheus auch für das Teilen von Leid und Ermutigung zwischen Menschen: Wenn wir in Not geraten, schreiben sie, sollt ihr dadurch ermutigt und gerettet werdet. Wenn wir ermutigt werden, sollt ihr dadurch neuen Mut schöpfen. (2Kor 1,6–7) Drei Dinge sind dabei zu bedenken:

(1.) Die Quelle von Trost und Mut liegt nicht in uns. Sie liegt in Gott. Er ermutigt uns in all unserer Not. (1Kor 1,4a) So finden wir zu einem Gefühl von Sicherheit zurück und zu einem Grundvertrauen in die Welt und das Leben.

(2.) Um andere trösten und ermutigen zu können, müssen wir uns selbst trösten und ermutigen lassen. Paulus schreibt: Gott ermutigt uns in all unserer Not. Und so können auch wir anderen Menschen in ihrer Not Mut machen. (1Kor 1,4). Um es ganz deutlich zu sagen: Hier ist es gut und richtig, zunächst auch an sich selbst zu denken. Wer leer und ausgebrannt ist, kann anderen nicht helfen. Bei allem Engagement, bei aller Solidarität und bei allem Mitleiden, brauchen wir eine Verbindung zur Quelle der Ermutigung. Müssen uns von ihr füllen lassen, damit wir von dem, was in uns ist, anderen etwas weitergeben können.

(3.) Ermutigung und Trost entstehen in der Schwäche und Verletzlichkeit und stammen nicht aus der Position der Stärke. Damit wir von Gottes Trost erfüllt und mit seinem Mut gestärkt werden können, müssen wir uns dafür öffnen. Müssen unsere Verletzlichkeit annehmen und unsere Bedürftigkeit zeigen. Die Masken der Stärke und Härte abnehmen und zugegen und zeigen, wie es ist: Wir wissen nicht weiter. Wir sind traurig. Wir haben Angst. Wir sehnen uns nach einer heilen Welt und einem glücklichen Leben. Das können wir Gott anvertrauen, das sollten wir einander anvertrauen. Die Schülerinnen und Schüler tun das mit ihren Briefen an die Welt in beeindruckender Weise. Sie zeigen ihre Schwäche und Bedürftigkeit und öffnen sich damit für Trost und Ermutigung. Lasst uns von ihnen lernen!

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Lasst uns offene Briefe an die Welt schreiben, liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder in Hilden. Oder besser noch, lasst uns offene Briefe an die Welt sein. Man soll uns ruhig anmerken, wenn wir in Not und Bedrängnis sind. Wenn unser Vertrauen Risse bekommt und unsere Sicherheit ins Wanken gerät. Man soll uns aber auch anmerken, dass wir Trost und Ermutigung in unserem Glauben finden. Und Mut und Stärke, um anderen beizustehen. Man soll uns an der Seite der 15jährigen Schülerin sehen, die fragt, ob wir nicht etwas dafür tun, können, „um eine perfekte Zukunft zu bekommen“. Man soll uns sehen, wie wir zu dem Mädchen – und zu allen Kindern und Jugendlichen – sagen: „Ja, dafür können wir etwas tun, lasst uns das gemeinsam machen!“

 


* Hilfreiche Anregungen und einige Formulierungen verdanke ich Magdalene L. Frettlöh: Lätare: 2.Kor 1,3–7. Getröstet und untröstlich zugleich freudig bei Trost sein. In: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe II, hg.v. Studium in Israel e.V., Wernsbach 2015, 135–141.